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Sprachlose Begegnungen, wie leuchtende Blumen im Nebel

Ich glaube, ich bin sprachlos. Seit Tagen beginne ich immer wieder neue Blogbeiträge, feile an Texten, die ich dann nach ein paar Mal durchlesen wieder lösche. Sie erscheinen mir in einem Moment sehr wichtig zu sein und im nächsten Moment verflüchtigt sich jeglicher Sinn hinter meinen Zeilen. Zuerst begann ich mit einem Text über meine Begegnung im Krankenhaus letzten Dezember. Ich erzählte, wie ich in meinem verletzlichsten Moment eine berührende Begegnung hatte. Wie sich meine Zimmernachbarin und ich die ganze Nacht unterhielten und uns gegenseitig wahrhaftig zuhörten. Ich lauschte ihrer Geschichte und fühlte mit ihr ihren Verlust. Ich schrieb darüber, wie sich unsere Freundschaft über unsere gemeinsame Erfahrung im Spital hinaus weiterentwickelt hat und es für mich in Zeiten wie diesen, in denen tiefe Verbindungen durch die sozialen Medien vom Aussterben bedroht sind, ein Geschenk war, sie kennenzulernen

Ich möchte darüber berichten, wie nährend ein tiefgründiger Austausch sein kann und wie wichtig es ist, Mitgefühl zu kultivieren. Mir scheint, als ob auf der Autobahn des Lebens die Räder immer schneller drehen und ihre Überhitzung nur noch eine lästige Randnotiz in den Köpfen der Fahrenden geworden ist. Sie ignorieren dabei getrost, dass Unachtsamkeit früher oder später zu einem gewaltigen Crash führen wird.

Ich wollte auch darüber sprechen, wie sehr mich die Ungleichheit frustriert, die ich, obwohl ich in einem privilegierten Land lebe, immer wieder zu spüren bekomme. Es gibt nach wie vor Unterschiede in der Hautfarbe, im Namen, im kulturellen Hintergrund, im sozialen Status, im Geschlecht und in den Voraussetzungen. Nein, die Bedingungen sind nicht für alle gleich. Ich möchte nicht mehr müde sein deswegen, weil es das Unausgesprochene, Subtile ist, was erschöpft, aber ich bin es immer wieder.

Vielleicht sollte ich keine tiefgründigen Bücher mehr lesen und mich von den eindrücklichen Bildern abgrenzen, die ich durch die wahren Geschichten und Schicksale einzelner Mitmenschen unweigerlich aufnehme. Vielleicht wäre es besser, meinen Kopf nicht darüber zu zerbrechen, wie herzlos die Mächtigen der Welt sind und wie gleichgültig die Wohlstandsgesellschaft damit umgeht. Denn ich habe genug zu tun mit den alltäglichen Fluten an Anforderungen, denen wir alle gerecht zu werden versuchen. Vielleicht täte ich gut daran, mich zurückzulehnen und als stille Beobachterin dem Spektakel zuzuschauen. Hinzunehmen, dass einfache Dinge, die für die einen selbstverständlich sind, für die anderen ein immenser Kraftakt bedeuten. Vielleicht… vielleicht sind Burnouts, ganz gleich ob durch Elternschaft, Arbeit oder Weltschmerz verursacht, nur eine neue Form von Grippe.

Aber dann meldet sich mein Herz zu Wort, das schwer wird bei jedem Femizid, bei Verletzungen der Menschenrechte, bei Ausbeutung und Gier, bei Krieg und Unterdrückung. Mein Herz kribbelt, wenn die endlose To-do-Liste nie kleiner wird. Mir schnürt es den Magen zu, wenn die Kinder schon in den Strömungen des Lebens schwimmen. Kleine Gestenbringer, Träumende, Kunstschaffende, Mitfühlende, berühren mich stärker als je zuvor, als wären sie leuchtende Blumen in einer vernebelten Landschaft. Dann möchte ich über sie schreiben, wie kräftig ihre Farben hervorstechen, wenn die Umgebung so trüb wirkt. Wie hell und zentral sie erscheinen.

Ich möchte all dies zusammenfassen, einen Abschluss finden, eine Moral der Geschichte herauskitzeln. Doch es sind zu viele Sätze, die ich nicht zusammenfügen kann. So merke ich, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll, dass die verschiedenen Texte keinen Zusammenhang haben.

Vielleicht könnte ich einfach darüber schreiben, dass es okay ist, keine Worte zu haben, dass sich das Chaos erst ordnen muss. Dass es nicht immer vorwärtsgehen muss, sondern okay ist, stehenzubleiben. Dass ich es vielleicht einfach aushalten muss, sprachlos zu sein, bis die Sprache den Weg zurückgefunden hat.

Wenn das Feuer der Anfänge erlischt

Die Zeit, als ich noch über meine riesige Kugel streichelte und mich fragte, wer sich unter der runden Bauchdecke zum kleinen Menschen entwickelt, scheint mir so nah und doch, als hätte sie in einem anderen Leben stattgefunden. Sie formte mich, zeichnete Narben, dehnte meinen Horizont und mein Widerstand. Zur gleichen Zeit machte sie mich demütig, nachdenklich, besorgt, durchflutet von Liebe und zeigte mir auf, wie ich mich immer wieder aufs Neue verabschieden muss von den Phasen der Entwicklung, die meine Kinder durchlaufen.

Es war vor ein paar Tagen, als ich mich in der Aula der Oberstufe befand, die mein Ältester nächstes Jahr besuchen wird. Ich sah all die Eltern wieder, mit denen ich gefühlt erst gestern noch auf die stolzen Kindergarten-Kinder wartete, wenn sie mittags aus der Schule kamen. Plötzlich sind die Jahre vergangen, die Babygesichter bekamen jugendliche Züge, bei den Eltern schimmert das eine oder andere silberne Haar hervor. Die aufgedrehten Kinder, die einst mit bunten Zeichnungen nach Hause kamen und ihre übergrossen Rucksäcke mitsamt Leuchtgurte durch die Strassen trugen, haben all dies gegen eine Flut an Hausaufgaben und zunehmenden Verpflichtungen eingetauscht.

„Es wird anstrengend“, unterstreicht die zukünftige Schulleiterin und sieht die Eltern eindringlich an. Ein beklemmendes Gefühl beschleicht mich bei dem Gedanken an mein Kind, das nach der Schule oft kaum noch die Energie hat, mit Freunden zu spielen, und seinen überlasteten Geist am liebsten nur noch in Videospielen entspannen lässt. Dort ist kein großes Denken oder Leisten erforderlich. Dort kann es sich erholen und wird mit Dopamin belohnt.

Ich frage mich immer häufiger, ob das wirklich nötig ist. Muss es sein, dass der wachsende Leistungsdruck die Freude der Kinder immer weiter dämpft? Manchmal fühlt es sich wie eine Bestrafung an, als würde man den Kindern beibringen, dass zu viel Freude und Eigenwilligkeit schlecht sind. Als ob man nur im Hamsterrad überleben kann. Ich möchte meine Kinder vor Enttäuschungen schützen und ihre kindliche Neugier konservieren. Es ist herzzerreißend, zu sehen, wie ihr Strahlen im Schulalltag langsam verblasst. Ich glaube nicht, dass Schule eine Strafe sein sollte. Sie sollte nicht so empfunden werden, und man sollte nicht für etwas getadelt werden, das noch gar nicht passiert ist.

Es scheint, als ginge es den Schulleitungen um einen Wettbewerb, wer die klügsten Köpfe hervorbringt. Dabei wird übersehen, dass diese Köpfe mit ihrer Einzigartigkeit und ihrem eigenen Lerntempo bereits klug genug sind. Sie werden beurteilt, gemustert und angepasst.

Man sucht zwar nach Lösungen, um den Anforderungen der Kinder gerecht zu werden, und sicherlich waren die Zeiten früher auch nicht besser. Dennoch tritt das Schulsystem trotz des heutigen pädagogischen Kenntnisstands auf der Stelle und dreht sich im Kreis. Es ist längst bewiesen, dass Kinder täglich höchstens zwanzig Minuten Konzentration für neuen Lernstoff aufbringen können, doch die Unterrichtszeiten beginnen immer früher und die Nachmittage werden länger. Müde schubse ich morgens meine Kinder aus dem Bett und nachmittags entbrennt im Erschöpfungszustand durch endlose Verpflichtungen der Streit um die Hausaufgaben.

Die Stimmen um mich sind laut: Eltern sind verzweifelt wegen der Depressionen ihrer schulpflichtigen Kinder und suchen ständig nach Wegen, ihnen zu helfen. Eine Liste von Diagnosen, die von Fachärzten gestellt wird, soll Erleichterung bringen, endet aber oft in neuem Frust, wenn die individuellen Bedürfnisse der Kinder ignoriert werden. Es ist, als würden wir alle gegen verschlossene Türen schlagen, hinter denen jemand sitzt, der die Macht hätte, alles zu ändern. Jedes Schlagen an die Tür ist ein mühevoller Akt, der stattdessen in Lebensqualität investiert werden könnte.

Es muss aufhören. Es ist Zeit. Es muss weniger werden. Weniger Druck gemacht, weniger Anforderungen gestellt, weniger Leistung erwartet, dafür mehr Leben gelebt, mehr Miteinander kultiviert, mehr Füreinander gefördert und das Feuer der Anfänge wieder gezündet werden.

„Komplexitätsreduktion“

Gastbeitrag von Andrea Christen

Oder weshalb wir unser Leben vereinfachen sollten.

Komplexitätsreduktion. Ich weiss noch, wann ich dieses Wort zum ersten Mal gehört habe. Es war vor ca. 15 Jahren während meines Studiums der Sozialen Arbeit, in meinem Lieblingsfach Soziologie. Seitdem begleitet mich dieses Wort. Unter anderem, weil es irgendwie wunderbar absurd ist, dass ein Wort, welches sinngemäss „Vereinfachung“ bedeutet, so lang und kompliziert daherkommt.

Aber vor allem, weil es für mich persönlich ein Thema ist. Ständig. In meinem nicht-neurotypischen Gehirn ging es schon immer zu und her wie auf einer Strassenkreuzung in Bangkok – chaotisch und unübersichtlich. Das kann anstrengend sein. Immer, wenn ich nicht mehr weiss, wo mir der Kopf steht, denke ich an „Komplexitätsreduktion“ und frage mich: Wie kann ich es einfacher machen?

Das Leben ist nicht nur komplex, wenn der Verstand anders tickt, es ist auch komplex, wenn das Zuhause voller Zeug ist, das wir nicht brauchen aber managen müssen.

Es ist komplex, wenn wir für andere Menschen Verantwortung tragen.

Es ist komplex, wenn die Agenda keine freien Lücken mehr aufweist.

Es ist komplex, wenn wir Kaufentscheidungen im Internet oder zwischen riesigen Supermarktregalen treffen müssen.

Es ist komplex, wenn uns im Privaten oder bei der Arbeit die Bürokratie in die Quere kommt.

Es ist komplex, wenn wir in einer Flut von Nachrichten aus weissderguggerwievielen Messengerdiensten, Chatgruppen und E-Mailkonten versinken.

Je komplexer unser Leben, desto grösser wird unsere Sehnsucht nach Einfachheit. Das ist ganz natürlich.

Wir leben in einer hochkomplexen Welt mit einem „alten“ Gehirn, das noch für die Zeit der Jäger:innen und Sammler:innen gemacht ist. Kein Wunder, drohen unsere Köpfe da manchmal zu implodieren. Sie sind einfach nicht gemacht dafür, ständig auf Hochtouren Informationen zu verarbeiten. Der Infofluss der unaufhörlich aus unseren smarten Phones plätschert, trägt ganz zusätzlich dazu bei, dass wir nicht mehr zur Ruhe kommen.

Unser Hirn sehnt sich nach Einfachheit. Das ist normal und gut so.

Die Frage ist nur, in welchen Bereichen wir nach dieser Einfachheit suchen. Wenn unser Alltag schon so komplex ist, dass wir kaum noch klar denken können, bleibt uns wenig Kapazität für die wirklich großen und wichtigen Themen. Und genau dann neigen wir dazu, einfache Antworten auf schwierige Fragen zu suchen: Richtig oder falsch? Schwarz oder weiß? Gut oder böse? Wir sind erleichtert, wenn uns jemand sagt, was richtig oder falsch ist, oder wir verschließen einfach die Augen – weil es zu viel wird.

Dabei ist es gerade bei diesen Bereichen entscheidend, dass wir uns die Kapazität für Komplexität bewahren (ob Komplexitätskapazität ein Wort ist?). Wir leben in einer Zeit tiefgreifender Veränderungen, und es ist wichtig, dass wir hinschauen, differenziert urteilen und nicht einfach alles in einfache Schubladen stecken. Denn diese Veränderungen betreffen nicht nur uns, sondern die gesamte Menschheit und die Zukunft unserer Kinder.

Und eigentlich wissen wir alle, dass es wichtig ist uns diesen Themen zu stellen.

Ich arbeite als Einrichtungsberaterin und rede oft über die Themen Reduktion, Einfachheit und Ruhe. Das ist kein Trend, sondern die Grundlage dafür, genug Kraft und Kapazität zu haben, um uns um die wirklich wichtigen Dinge zu kümmern.

Deshalb ist es so wichtig, den Alltag dort zu vereinfachen, wo es nicht so wichtig ist. Und da wo es sinnvoll ist, Entscheidungsmöglichkeiten zu reduzieren. Das sieht für jede:n von uns anders aus. Für mich heisst es konkret:

Mut zur Lücke haben und auch mal Einladungen ablehnen. Zu wissen, dass das Leben weiter geht, auch wenn ich eine interessante Veranstaltung verpasse. Nicht viele, dafür Lieblingskleider zu besitzen, die ich jeden Tag tragen möchte. Nicht auf jede Nachricht sofort zu antworten und regelmässig offline zu sein. Mir bewusst zu sein, dass das Glück meines Kindes nicht davon abhängt, ob es alles bekommt, was die anderen auch haben. In meiner Agenda großzügig Platz für freie Zeit und Langeweile zu lassen, weil diese die Kreativität fördert und uns hilft, Lösungen für komplexe Probleme zu finden.

Also, lasst uns gemeinsam für mehr Ruhe, Einfachheit und freie Zeit sorgen. Es wird nicht nur uns persönlich guttun, sondern auch der Welt. Denn wie Susanne Moser einmal sagte: “Burned out people aren’t equipped to serve a burning planet.”

Zur Autorin

Andrea Christen lebt mit ihrem Sohn in Biel. Sie ist Pädagogin, Sozialarbeiterin und Raum- und Ordnungsberaterin. Schreiben ist für sie gleichermassen Leidenschaft und Seelenbalsam. Sie träumt von einem Raum, in dem sie in Zukunft ihre unzähligen Ideen und Projekte umsetzen kann




Vom Versagen und Scheitern

„I have never tried that before, so i think i should definitely be able to do that“ – Pipi Langstrumpf

Kinder tun tagtäglich etwas, was wir Erwachsenen möglichst zu vermeiden versuchen: scheitern, versagen, vermasseln. An diesem Wort haftet ein negativer Beigeschmack – obwohl es ein Leben ohne das Scheitern gar nicht gibt.

Alles, was wir in der Kindheit gelernt haben, war oft mit Hinfallen, Weinen, Schamgefühl, Scheitern und Fehlern verbunden. Doch gerade so haben wir die erstaunlichsten Dinge gelernt – ganz automatisch und spielerisch. Daher frage ich mich, wann die Bereitschaft, Neues zu lernen, bei vielen von uns verloren gegangen ist. Ab welchem Zeitpunkt wurde es so schwierig, sich auf unbekanntes Terrain zu begeben und einfach von vorne anzufangen?

Kinder lernen den ganzen Tag. Sie stellen Fragen, stechen mutig in unbekannte Gewässer, haben von einigem keine Ahnung und das ist den meisten bis zu einem gewissen Alter eigentlich auch ziemlich egal. Doch irgendwann scheint es, als hätten wir beschlossen, dass wir hoffnungslose Fälle sind, dass Unwissenheit peinlich ist und dass es eine Blamage ist, zuzugeben, dass wir fehlbar sind und weit davon entfernt, allwissend und allmächtig zu sein. Diese vermeintliche Perfektion unseres Erwachsenenbildes führt dazu, dass wir uns in einem ewigen Kampf um ein makelloses Selbstbild befinden. Die Konsequenzen zeichnen sich im Laufe der Zeit durch eine seelische Verkümmerung ab. Dabei könnten wir es wie Kinder handhaben und täglich Neues lernen – ist dieses Neue noch so unbedeutend. Mit einem offenen Geist könnten wir durchs Leben gehen, uns damit abfinden, manchmal etwas nicht zu wissen oder zu können – selbst in Bereichen, in denen wir uns normalerweise sicher fühlen.

Vor einigen Jahren entschied ich mich für eine Lebensweise des Lernens, weil ich die Früchte erkannte, die ich dadurch ernte. Durch meine Rolle als Mutter finde ich es nicht so schwierig, diesen Vorsatz zu halten, da ich noch nie zuvor Mutter war und somit gezwungen bin, mich automatisch jeden Tag dieser Herausforderung zu stellen. Als Mutter erlebe ich oft Déjà-Vus, aber aus einer neuen Perspektive. Plötzlich bin ich die Erwachsene, die ich als Kind beobachtet habe, und sehe die Welt mit anderen Augen. Es ist ein bisschen so, als würde ich eine alte Geschichte neu schreiben, nur, dass ich diesmal eine der Hauptfiguren bin. Trotz meiner enthusiastischen Vorsätze des ewigen Lernens, beobachte ich meine Zurückhaltung dennoch in gewissen Situationen. „Das kann ich sowieso nicht“, oder „das ist viel zu kompliziert für mich, das werde ich wohl nie verstehen.“ Aber wer sagt das eigentlich? Könnte es nicht vielleicht sein, dass ich vieles verstehen lernen kann, wenn ich mich der Herausforderung stelle, kläglich dabei zu versagen? Und dass dieses Versagen, wenn es denn einträfe, völlig ok wäre?

Denn eigentlich ist es nur die Angst, was andere von einem denken könnten, dass wir das Scheitern vermeiden. Gäbe es niemand der uns beobachten könnte, wäre es egal, ob wir Fehler machen bei Dingen, die wir noch nicht können. Ich glaube wir alle sollten öfter den Mut aufbringen, auch mal schlecht zu sein in etwas. Nicht immer erst das perfekte Resultat zu präsentieren, sondern auch mal ins kalte Wasser zu springen und die inneren Alarmglocken getrost zu ignorieren.

Lernen ist gesund und stärkt die mentale Gesundheit

Der Lernbereitschaft wird zudem noch eine weitere positive Note verliehen- es ist gesund den Geist zu füttern. Es mag anstrengend sein sich mit etwas zu beschäftigen, was in erster Linie nicht leicht von der Hand fällt oder einem wie eine Fremdsprache erscheint. Aber wie bei allem im Leben, sind es die vielen kleinen Blöcke, die am Ende das ganze Haus bauen. Bei jedem Meilenstein werden verschiedene Hormone ausgeschüttet wie Dopamin, Serotonin und Endorphine, die Wohlbefinden und Glücksgefühle auslösen können. Den Horizont zu erweitern, in Themen einzutauchen, die einem fremd sind, tut demnach nicht nur einem selbst gut, sondern fördert auch das Verständnis anderen Menschen gegenüber.

Ich glaube, wir sind nicht dazu gemacht, alles richtig zu machen und alles zu verstehen, sondern nur, es überhaupt zu versuchen. Wenn die Dinge, die wir erlernen, irgendwann zu einem Erfolg führen – und Erfolg wird individuell verstanden – kann dies eine angenehme Begleiterscheinung unserer Mühen sein. Doch am Ende ist es egal, wohin uns das Anlegen an fremde Ufer führt. Sicher ist nur, dass es unseren Horizont erweitert. Und das ist es allemal wert.

Was möchtest du noch lernen, worin du womöglich kläglich scheitern wirst?

Das Maskottchen unserer Zeit

Politische Texte sind normalerweise nicht mein Bereich. Ich ordne mein Schreiben einer anderen Kategorie zu. Ich reflektiere gerne über das Leben, meine Kinder, über die Liebe und die Natur. Ich denke über die Menschen in meiner Nähe und die in der Ferne nach. Es gibt wundervolle Kulturen und Traditionen, über die es sich zu schreiben lohnt. Es warten unglaubliche Geschichten darauf, erzählt zu werden. Aber wenn ich über all diese Dinge nachdenke, erkenne ich, dass das Leben, mit all seinen Facetten, die mich faszinieren, unvermeidlich mit Politik verbunden ist. Mein Leben spielt sich auf diesem Planeten ab, und ob ich will oder nicht, ich bin Teil eines Systems, das von einer Minderheit geführt, gesteuert und beeinflusst wird, die sich als die Mächtigsten der Welt bezeichnen können. Ich bin Teil einer Gesellschaft, die sich über Jahrhunderte entwickelt hat und doch in mancher Hinsicht auf der Stelle tritt.

Angesichts dieser Umstände habe ich keine andere Wahl, als mich der Politik zu stellen. Ich kann sie nicht ignorieren, da mein Leben und das meiner Kinder davon abhängt. Ich bin ein Teil davon – auch wenn ich es vorziehen würde, auf einer Insel mit weißem Sand und türkisblauem Meer zu sein, weit weg von den schrecklichen Nachrichten, die mich täglich über all die vielen Kanälen erreichen.

Ich kann mich der Politik nicht entziehen, und schon gar nicht dem Wahlsieg von Trump. Doch es ist nicht sein Sieg, der mich schockiert. Denn wer auch immer gewonnen hätte, ist nur das Maskottchen unserer Zeit. Ein Symptom der Krankheit, die sich bereits in unserer Welt verbreitet hat.

Viele Ratgeber betonen, dass man ohne Veränderung der Handlungen keine neuen Ergebnisse erwarten kann. Zum Beispiel wird jemand, der täglich Süßigkeiten und Fast Food isst, nicht gesünder oder schlanker werden, ohne seine Ernährung zu ändern. Es erfordert Entschlossenheit, Tränen, Mut, Ausdauer, Disziplin und tägliche Aktionen, um Ziele zu erreichen. Niemand anders wird die Arbeit für einen erledigen.

Das gilt auch für unsere Gesellschaft. Wenn wir den bequemen Weg wählen, Ausbeutung durch unser Konsumverhalten fördern, bei Unannehmlichkeiten wegschauen, uns im Hamsterrad drehen und uns nur nach der Sonne richten, während sie bereits große Teile der Erde verbrennt, wird sich das schädliche System weiterentwickeln und Symptome wie Trump werden zunehmend sichtbar.

Es gibt eine treffende Metapher: Lotusblumen gedeihen im Schlamm. Daher könnte es – wenn nun auch diejenigen, die bisher im Hintergrund standen, überlegen, was schiefgeht – zu einer Veränderung kommen. Vielleicht lassen sich die Strömungen umlenken, kollektives Verhalten neu orientieren. Vielleicht könnte dieser Wahlsieg jene aufwecken, die bisher glaubten, die Probleme der Welt gingen sie nichts an.

Ich möchte weitere Samen in den Schlamm pflanzen, in dem wir uns befinden. Und ich hoffe, dass auch jene, die noch zu privilegiert sind, um die Dringlichkeit zu spüren, sich endlich für ein würdevolles Miteinander auf unserem Planeten einsetzen werden.

Denn letztendlich haben die Privilegierten die Macht, im System den größten Unterschied zu bewirken. Doch sind es oft gerade diese Privilegierten, die am meisten davor zurückschrecken, etwas von ihrem Kuchen abzugeben. Dabei wäre der Kuchen am köstlichsten, wenn jeder ein Stück davon erhalten würde – genug ist schließlich für alle da.

Was wir mit Ameisen gemeinsam haben

In einem Interview mit der Sternstunde Philosophie (SRF) zog Bayo Akomolafe einen interessanten Vergleich: Unsere gesellschaftliche Krise sei ähnlich der Todesspirale der Ameisen. Diese gefräßigen Wanderameisen folgen stets einer Pheromonspur zu ihrer Beute und orientieren sich an ihren Vorgängern. Da sie im Heer marschieren, geraten sie in eine gefährliche Schleife, aus der sie ohne fremde Hilfe nicht entkommen können. Sie bewegen sich im Kreis bis zur völligen Erschöpfung.

Nach Akomolafe befindet sich unsere Gesellschaft in einer ähnlichen Pheromonfalle. Der Mensch folgt einer vorgegebenen Spur und manövriert sich damit ins Abseits. Um dieser Spirale zu entkommen, müssen wir uns auf völlig neue Denkweisen einlassen. Der Autor und Coach Veit Lindau betont in seinen Büchern, dass Menschen nach ihren tief verwurzelten Glaubenssätzen leben. Das Gehirn sucht ständig nach Bestätigung, dass diese Glaubenssätze wahr sind. Doch in Wirklichkeit sind es nur Glaubenssätze, die theoretisch jederzeit geändert werden könnten, wenn sie nicht so hartnäckig wären und uns festhielten, als wären wir durch ein unsichtbares Band gebunden.

Wenn man der Spiralentheorie Glauben schenkt, bräuchten wir jemanden, der uns rettet. Oft fühle ich mich tatsächlich in einer Alltagsspirale gefangen. Und unsere Kinder schleudern wir in dieselbe, ohne dass sie eine Chance zum Entkommen haben. Das Problem unserer Gesellschaft ist, dass sich das Rad immer schneller dreht und die Erschöpfung dementsprechend früher einsetzt.

Akomolafe hebt in seinem Interview hervor, dass es eigentlich keine „moderne“ Gesellschaft gibt; sie sei eine Illusion des technischen Fortschritts. Zweifellos haben wir uns entwickelt und unsere Lebensweise hat sich drastisch verändert. Aber warum lernen wir nicht aus den Fehlern früherer Generationen? Warum geschehen trotz psychologischem Wissen, Fortschritt und unendlichen Möglichkeiten immer noch so viele Schreckenstaten?

Wir alle haben den Eindruck, durch die Errungenschaften der Welt auf alles vorbereitet zu sein, als wäre alles unter Kontrolle. Doch immer wieder wird uns vor Augen geführt, wie wenig wir tatsächlich kontrollieren können. Wir sind nicht unsterblich und haben es auch nicht geschafft, Naturkatastrophen zu verhindern. Das Leben wurde durch Technologie, Kapitalismus und Fortschritt nicht erleichtert, sondern die Spirale der Belastung wurde nur weiter angefacht. Es ist also höchste Zeit, aus dieser auszubrechen.

Trotz apokalyptischer Szenarien wie Massakern, Klimawandel, Kriegen, Verbrechen und kollektivem Burnout verliere ich die Hoffnung nicht, dass gerade schwierige Zeiten den notwendigen Wandel einleiten können. In der Dunkelheit leuchtet das Licht am stärksten. Ich bin überzeugt, dass es Mut erfordert, schrittweise aus der Abwärtsspirale auszubrechen. Zudem ist es wichtig, sich bewusst zu sein, dass wir alle miteinander verbunden sind, auch wenn uns manche Schicksale fern erscheinen – sie gehören dennoch zu uns. Es bedarf daher Achtsamkeit und eines bewussten Umgangs miteinander und mit sich selbst, um sich allmählich aus der Tretmühle zu befreien. Die tief verwurzelten Bande werden nicht über Nacht zerreißen. Sie werden aber mit der Zeit lockerer und schließlich von selbst zerfallen, wenn wir beginnen, an ihnen zu ziehen und die längst fälligen Muster aufzubrechen.

Selflove first?

Vor einigen Jahren, als ich fast meine Fähigkeit zu gehen verloren hatte, fing ich an, mich mit dem Konzept der Selbstliebe zu beschäftigen. Es wird oft gesagt, dass man, wenn man sich mit einem Thema beschäftigt, es plötzlich überall wahrnimmt. Wenn ich zum Beispiel den Kauf eines roten Autos in Betracht ziehe, scheinen plötzlich alle Autos auf der Straße rot zu sein. Wenn ich überlege, ein Baby zu bekommen, scheinen alle Frauen um mich herum schwanger zu sein. Unser Fokus richtet sich auf das, was uns bewegt. Deshalb kam es mir vor, als würde sich die ganze Welt der Selbstliebe zuwenden – überall fielen mir Bücher auf, die sich mit Selbstfürsorge beschäftigten. Eine neue Welt tat sich für mich auf, da ich diese Art des Umgangs mit mir selbst nicht kannte – sonst wäre ich vielleicht nicht in die Lage gekommen, die meine Gesundheit beeinträchtigte. Jahrelang vernachlässigte ich mich selbst und meine Bedürfnisse. Der Wendepunkt kam, als ich erkannte, dass ich ‚dürfen‘ statt ‚müssen‘ kann. Mir wurde klar, wie wichtig es ist, auf die eigenen Empfindungen zu achten und Grenzen zu setzen.

Ich stehe nicht allein da, mit meinem Wunsch nach weniger Stress, mehr Anerkennung und der Hoffnung auf eine Gesellschaft, die psychische Gesundheit stärker berücksichtigt als in der Vergangenheit. Soziale Medien zeigen, dass „Selbstliebe“ zum Trend geworden ist. Hierbei finde ich mich in einem Konflikt zwischen dem, was ich für gesund und wertvoll halte, und dem, was ich beobachte. Ich unterstütze voll und ganz die Bewegung hin zu einer Gesellschaft, die die Gefühle und Wünsche jedes Einzelnen ernst nimmt, ohne jedoch die feine Grenze zu überschreiten, die zu Schaden führen könnte. Der Trend geht nicht mehr nur darum, die eigene mentale und körperliche Gesundheit und notwendige Grenzen zu wahren, sondern entwickelt sich zunehmend zu narzisstischen Formen, die in Ignoranz umschlagen können.

Diese Entwicklung wäre mir vielleicht kaum aufgefallen, hätte sich meine kritische Sicht auf die Welt nicht durch die schreckliche Situation im Nahen Osten drastisch verstärkt. Es fühlt sich an, als hätte ich eine Neuprogrammierung erfahren, um die Dinge anders zu sehen. Die Aspekte des Systems, die ich zuvor beklagt habe, wie Umweltzerstörung und finanzielle Ungleichheit, sind für mich nun kaum noch hinnehmbar. Institutionen, an deren Professionalität ich früher kaum gezweifelt habe, wirken nun betrügerisch auf mich. Meine Bemühungen um Selbstliebe scheinen fast lächerlich angesichts der Leiden, die Zehntausende Zivilisten, nur wenige Flugstunden entfernt, ertragen müssen.

Die Frage, ob es fair ist glücklich zu sein, wenn ich anderen dabei zusehe, wie sie ihre Kinder begraben müssen und ihre Häuser verlieren, überschattet mich. Ich kann ihren Schmerz nur erahnen, aber weine um ihre Verluste, als wären es meine eigenen. Ich bin mir bewusst, dass meine Gesundheit wichtig ist und ich sie schützen muss, vor allem um für meine Kinder präsent zu sein. Dazu gehören auch Dinge, die Spass und Leichtigkeit hervorbringen. Ich kann mich nur dann mit globalen Ereignissen auseinandersetzen, wenn ich mich wohl fühle. Daher halte ich es für wesentlich, eine gesündere Beziehung zur Selbstliebe zu entwickeln, die zwar die Anerkennung eigener Bedürfnisse und die Unabhängigkeit von der Meinung anderer einschließt, aber nicht in eine übertriebene Ich-Mentalität abgleitet. Wer sich selbst keine Freude mehr erlaubt, nur, um in Solidarität mit den Schwächsten zu stehen, hilft niemandem damit. Es ist unser natürliches Recht Begeisterung, Gesundheit, reiche Erfahrungen und die Schönheit der Welt zu erleben. Wenn es aber nur darum geht sich von allen abzuheben, sich die Welt nur noch um einem selbst dreht, Egoismus kultiviert wird, dann nimmt dieser Begriff der „Selbstliebe“ eine ungesunde Färbung an. Dann geht es soweit, dass wir irgendwann abstumpfen und das verlieren, was für uns Menschen unverzichtbar ist: Echte Verbindungen.

Das Leid im Nahen Osten hat in mir ein Feuer entfacht. Es rief in mir eine Solidaritätswelle hervor, die weit über die Länder rund um Palästina und die umliegenden Länder hinausgeht. Es begann mit einem Gefühl der Ungerechtigkeit und mündet in einer Überzeugung, dass ein gewaltiges globales Problem vorherrscht, das hauptsächlich von patriarchalischem, westlichen Ausgang ist. Ein Problem, das im Grunde den gleichen Kern trägt, aber immer in einem anderen Kostüm erscheint. Es ist der „Ich“ Gedanke; die Annahme, man unterscheide sich von anderen – besser, zivilisierter, wertvoller-, der dazu führt, dass sich die Gier nach immer mehr niemals stillen lässt. Dieser subtile Narzissmus, den besonders machtpositionierte Menschen haben. Und es ist die Abwesenheit von emotionaler Intelligenz. Das Auseinandersetzen mit Geschichte, Kultur und der Umwelt- mit Dingen, die sich nicht nur im eigenen Umkreis bewegen, aber auch mit dem Durchforsten des eigenen Innenlebens.

Trotz meiner täglichen Bestürzung darüber, dass so viele Menschen Schreckliches durchmachen müssen, empfinde ich tiefes Glück beim Austausch mit jenen, die ebenfalls unter diesen Nachrichten leiden. Gemeinsam zu trauern, Gefühle zu teilen, Erfahrungen zu machen und sich gegenseitig zu unterstützen, sind wesentliche menschliche Bedürfnisse. Es mangelt an dem Bewusstsein, dass es nicht ausreicht, nur bis zum Tellerrand zu schauen. Wir können nur vollständig sein, wenn wir alles einbeziehen, was zu unserer Welt gehört. Schon in der Schule sollte Kindern Empathie und Mitgefühl gelehrt werden. Die westliche Welt muss sich den Folgen ihrer langanhaltenden Unterdrückung stellen. Selbstliebe zu zelebrieren funktioniert nur, wenn wir uns auf echte Verbindungen einlassen und auch Unbequemlichkeiten gegenübertreten. Indem wir Kompromisse eingehen und akzeptieren, dass wir nicht so einzigartig sind, wie wir es vielleicht wünschen, sondern Teil eines großen globalen Puzzles.

Mutter sein ist wie gärtnern

Meine Psychologin hat mir einmal gesagt, dass ich meine eigenen Erfahrungen nicht auf die meiner Kinder übertragen soll. Selbst als mir während der Schwangerschaft eine Frühgeburt drohte, beruhigte mich die Hebamme mit den Worten: “Ihr Kind hat seinen eigenen Weg, für den Sie nicht die volle Verantwortung tragen können. Vertrauen Sie Ihrem Kind.” Diese Worte sind tief in meinem Gedächtnis verankert und kommen immer wieder zum Vorschein, wenn ich sie brauche. Dennoch fühle ich mich oft hin- und hergerissen zwischen Vertrauen und Kontrolle, wie ein Tennisball, der ständig hin und her geworfen wird.

Ich vertraue darauf, dass meine Kinder, wie auch ich und alle anderen Lebewesen auf diesem Planeten, ihren eigenen Plan haben. Ein Plan, der aus Schicksal, einem vorgezeichneten Muster und dem eigenen Willen, die richtigen Entscheidungen zu treffen, besteht. Doch meine Neigung zur Kontrolle ist etwas stärker, geprägt durch das lebenslange Aufrechterhalten einer Maske, die im Grunde eine Rüstung gegen jegliche Verletzungen darstellt. Es ist wahrscheinlich normal, sich im Laufe der Zeit eine solche Schutzschicht zuzulegen, denn vor bestimmten Erfahrungen muss man sich schützen, da sie wiederholt krank machen können. Andere hingegen helfen mir, mich weiterzuentwickeln.

Ich beobachte, wie ich versuche, meinen Kindern diese Rüstung anzulegen, um sie vor den zehrenden Gefühlen der Enttäuschung, Trauer und Wut zu bewahren. Dabei vergesse ich, dass diese Gefühle zum Leben dazugehören und es wichtig ist, sie zu regulieren und für sie einzustehen. Diese Gefühle sind essentiell, denn sie verbinden uns mit unserer Seele und führen uns zum Kern unseres Seins.

Doch was, wenn das Einstehen für diese Gefühle meine größte Herausforderung ist? Wie letztens, als mein Kind erneut spürte, wie es ist, wegen seiner Hautfarbe beleidigt zu werden? Wie es ist, für jemanden weniger wichtig zu sein, als dieser Mensch für mein Kind ist? Beim Zusehen und Mitfühlen brannte es unter meiner Rüstung so stark, dass ich sie ablegen und meinem Kind um das junge Herz legen wollte. Es war vermutlich einer dieser Momente, in denen ich mich in meinem Kind sah und die Grenzen zwischen uns ausfranste. In solchen Momenten bin ich dankbar für die Menschen in meinem Leben, die mich aufrütteln und sagen: „Stopp! Tritt einen Schritt zurück, atme ein und aus und sei einfach da für dein Kind. Und für dich. Alles andere regeln wir Schritt für Schritt.“

Es braucht Mut, loszulassen und nur die Begleitung zu sein, die auffängt und stützt, wertefrei – wann auch immer es nötig ist. Und es braucht Kraft, sich zuerst selbst von einer stärkenden Person begleiten zu lassen. Denn wie sollen wir wissen, wie wir unsere Kinder unterstützen können, wenn wir selbst niemanden haben, der uns an die Hand nimmt? Ist es nicht das Menschlichste der Welt, das Abenteuer Leben gemeinsam zu bestreiten, statt allein? Ich kann nicht jedes Problem allein lösen, und so kann es auch nicht mein Kind. Aber dazu muss ich es zuerst zulassen. Mich langsam herantasten an die Möglichkeiten, die sich mir bieten, sobald ich Hilfe annehme und mich öffne für Unterstützung.

Das Bewusstsein, nicht für alles verantwortlich zu sein und nicht alle Probleme allein lösen zu müssen, wirkt beruhigend. Es mindert den inneren Druck, den fast jede Mutter kennt: alles noch besser machen zu wollen. Wann begannen wir Mütter zu glauben, dass wir sämtlichen Erwartungen gerecht werden müssen? Als ob wir Frauen dazu bestimmt wären, in jedem Lebensbereich fehlerfrei zu sein. Bedauerlicherweise sind es oft wir selbst, die sich die höchsten Erwartungen auferlegen.

Warum sind wir so streng mit uns selbst?

Erwartungen sind generationsübergreifend und werden, sofern sie sich kulturell und gesellschaftlich nicht verschieben, stets weitergegeben. In meiner eigenen Kindheit sehe ich meine Großmutter, die in meinen Augen eine gesunde, intakte Beziehung führte, ein traditionelles Eheleben pflegte und nach den Regeln der konventionellen Kindererziehung handelte. Meine Mutter hingegen brach mit diesem Familienbild und war alleinerziehend. Trotzdem versuchte sie, die Messlatte hoch zu halten und ihre Stärke zu beweisen. Sie wirkte auf mich unerschütterlich und unfehlbar, was meine eigenen Erwartungen stark beeinflusste. Doch nicht nur die mütterliche Seite meiner Ahnenlinie prägte mein Selbstbild, sondern auch die gesellschaftlichen Ansprüche an mich und allgemein an Frauen, die einen erheblichen Einfluss haben. Letztendlich wollen wir alle irgendwo dazugehören und anerkannt werden, und dafür wird die eigene Authentizität leider manchmal hinter einer Maske versteckt.

Um den eigenen Perfektionismus abzulegen, muss man zuerst die Unvollkommenheit der anderen akzeptieren. Solange wir selbst noch mit dem Zeigefinger auf andere zeigen, werden die gesellschaftlichen Erwartungen an uns und durch uns Mütter und Frauen gleich bleiben. Ich möchte daher im Alltag achtsam sein, meine Empfindungen umarmen, Mitgefühl für mich und andere kultivieren, offen und neugierig sein, hinfallen und wieder aufstehen. Ich möchte Grenzen setzen, wo es nötig ist, und Grenzen öffnen, wo inneres Wachstum möglich ist. Ich möchte zulassen, heranlassen, mir Raum geben, scheitern und Fehler machen. Und ich möchte vertrauen – meinem eigenen Weg und dem meiner Kinder. Sie wie die nährstoffreiche Erde einer Pflanze immer wieder wässern und düngen, manchmal den Standort wechseln und beobachten, worin sie am besten gedeihen. Aber wachsen werden sie von selbst.

Der Albtraum der Realität

Ich glaube, wir alle hatten ihn schon einmal: diesen dystopischen Traum, aus dem man verzweifelt erwachen möchte, aber es gelingt einfach nicht. Gefangen in einer verworrenen Geschichte, gejagt von etwas Unheimlichem, stürzt man vielleicht in eine tiefe Schlucht und weiß nicht, wo die Reise endet. Beim Erwachen bleibt das Unbehagen in den Gliedern, die Gedanken hallen noch nach. Zum Glück war es nur ein Traum, sagt man sich. Der Tag beginnt, und langsam tritt die Geschichte in den Hintergrund.

Doch was, wenn dieser Traum zur Realität würde? Wenn das Leben sich anfühlen würde wie eine dieser unangenehmen Nächte voller Schlafparalyse und Albträume?

So erscheint mir die Welt derzeit. Tag für Tag sehe ich in den sozialen Medien Bilder des Entsetzens, deren Existenz ich mir noch vor nicht allzu langer Zeit nicht eingestehen wollte. Sie erinnern an die unheimlichen Geschichten, die einem die Nachbarin früher erzählte, während man mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund an ihren Lippen hing, nur um sich im nächsten Moment einzureden, dass so etwas so selten geschieht und sicherlich nur in weiter Ferne. Also eigentlich kaum der Rede wert. Und vielleicht waren sie früher nicht erwähnenswert, weil wir sie nicht in Echtzeit erlebten – anders als heute. Die Welt schrumpft und verdichtet sich, die Grenzen werden von einigen hemmungslos überschritten, während sie für andere unüberwindlich erscheinen.

Doch jetzt? Jetzt sind diese Albträume und unheimlichen Geschichten nur einen Wimpernschlag entfernt. Aber das ist noch nicht einmal das Schlimmste: Das Schlimmste ist das Fehlen der Anerkennung. Es gibt Zeugen des Grauens, aber keine Verurteilung für ebendieses. Es ist ein Hämmern gegen eine Mauer, die nur Wunden bei denen hinterlässt, die versuchen, sie zu durchbrechen.

Es ist wie eine Achterbahnfahrt, nur dass es bei einer Achterbahn auf und ab geht. Bei dieser Fahrt jedoch stürzt der Wagen mit voller Wucht in den dunklen Tunnel – ohne die Gewissheit des Wiederaufstiegs.

Alles, was ich tun kann, ist atmen. Ein- und ausatmen. Die Hand aufs Herz legen. Trauern. Beten. Hoffen.

Alles, was ich tue, ist an jene zu denken, die nicht mehr atmen können.

Und alles was ich mir wünsche, ist, dass die Menschlichkeit heute wieder bedeuten würde, das Herz zu öffnen. Wenn dieses pumpende Ding zwischen den Rippen frei wäre von Geld-und Machtstreben, könnte die Welt eine Bessere sein.

Emotionen, Gefühle und ich

Vor einigen Tagen erlebte ich eine faszinierende Diskussionsrunde über Emotionen und den Schutz unserer Gefühle. Es war ein freimütiger Austausch in einer intimen Frauengruppe – locker, unverstellt und belebend.

Was uns in dieser Runde vereinte, war die Erkenntnis, dass wir alle Momente erleben, in denen Emotionen uns übermannen. Wie ein unerwarteter Tsunami brechen sie manchmal aus der trügerischen Ruhe hervor und überfluten uns mit ihrer gewaltigen Kraft. Zurück bleibt oft eine tiefe Erschöpfung, die Tage anhalten kann.

Vielleicht ist es gerade dieses Nachbeben, diese Unfähigkeit, sich den Gefühlen hinzugeben, die die emotionale Achterbahn so zermürbend macht. In überwältigenden Momenten fühle ich mich wie berauscht. Es ist, als würde ich von kleinen Wesen durch das Geschehen getragen, die mein Innerstes kurz erschüttern. Zurück bleiben ein Gedankenkarussell, die Nachwirkungen, die Erschöpfung.

Wozu dieses Gefühlsgewusel?

Emotionen sind von wesentlicher Bedeutung, um das Leben richtig einzuschätzen und angemessen darauf zu reagieren. Sie leiten uns an, die beste Entscheidung für unser Wohlergehen zu treffen und verschaffen uns Orientierung. Ekel kann ein Hinweis darauf sein, dass ein Lebensmittel verdorben ist und uns krank machen könnte. Angst signalisiert eine drohende Gefahr und aktiviert unser limbisches System. Wut empfinden wir meistens dann, wenn wir etwas als ungerecht einstufen. Obwohl unser Gehirn kontinuierlich Gefühle produziert, werden wir uns dieser erst klar, wenn sie in unser Bewusstsein treten. Emotionen äußern sich nicht nur subjektiv, sondern auch physisch – ein erhöhter Blutdruck und Hitzegefühl können uns zu notwendigen Handlungen antreiben. Stellen wir uns zum Beispiel einem Löwen gegenüber, könnten wir zunächst erstarren – zumindest stelle ich es mir so vor –, was dazu führen könnte, dass der Löwe uns in Ruhe lässt. Adrenalin versetzt uns in die Lage, in extremen Situationen schnell zu reagieren.

Positive Emotionen wie Liebe sind essenziell für Vertrauen. Ohne sie fehlt die Basis für Bindungen, sei es, um eine Familie zu gründen oder sich um ein Haustier zu kümmern. Vieles kann in der Atmosphäre der Liebe gedeihen, zum Beispiel ein Dschungel in der Wohnung – aber das ist wieder ein anderes Thema…

Eine Mauer für die Gefühle

Wenn Emotionen wiederholt stark auftreten und ich sie nicht genau benennen oder verarbeiten kann, fühlt es sich an, als würden sie Risse hinterlassen – eine leichte Verletzung. Es ist vergleichbar mit einem abgetragenen Turnschuh, der seine Widerstandsfähigkeit verloren hat und bei dem die nackten Füße bereits den Boden berühren. Menschen, die ständigem Stress ausgesetzt sind, entwickeln irgendwann eine gewisse Abgestumpftheit, als hätten sie eine Mauer um ihre Gefühle errichtet. Manchen fällt dieses Schützen leichter, während andere damit kämpfen. Besonders sensible Personen empfinden bestimmte Situationen als sehr belastend.

Kann ich meine Gefühle schützen? Meistens nicht oder nur bedingt. Es sei denn, ich ziehe mich in meine eigenen vier Wände zurück – meinen persönlichen Schutzraum – oder ich meide Menschen und riskante Situationen. Aber sobald ich mich der Welt öffne – hallo –, reagiert mein limbisches System heftig. Das kann manchmal echt anstrengend sein. Wenig erstaunlich, dass ich oft emotional erschöpft bin, besonders wenn der Alltag einige schwierige Momente mit sich bringt, da bin ich wieder beim Thema des abgetragenen Schuhs…

Ein weiterer Weg, wie ich mit Emotionen umgehe, sieht zum Beispiel so aus:

Emotionen regulieren

Wenn mich etwas tief traurig oder wütend macht, habe ich mich schon öfter dabei ertappt, dass ich in diesen Gefühlen verweilen möchte. Es erfordert einen enormen Kraftakt, wenn es keine Gelegenheit dazu gibt. Ich mag es nicht, mich zusammenzureißen. Am liebsten betrachte ich die Bilder, die mich traurig machen, bewusst, um den Schmerz zu spüren. Bei wehmütigen Gefühlen, sei es wegen eines Menschen, eines Ortes oder einer Lebensphase, höre ich gerne Musik, die diese Erinnerungen verstärkt.

Vor kurzem unterzog ich mich einem Duft-Kommunikationstest bei einer Aromatherapeutin. Sie präsentierte mir verschiedene Düfte, die Erinnerungen und Emotionen wecken sollten, um eine Duftmischung zu kreieren, die mich in emotional herausfordernden Zeiten unterstützt. Schließlich fand ich mich gedanklich auf einer Bergtour mit meinem verstorbenen Großvater wieder und musste einige Tränen vergießen. Es schien, als würde mein limbisches System durch die Düfte angenehme Erinnerungen auslösen.

Somit habe ich also einen neuen Begleiter, nebst der Musik entdeckt, der mich in meiner Emotionalität begleitet.

Kein Platz für grosse Gefühle

So viel zum Thema Selbstregulation und dem Hingeben an Gefühle. Die Theorie mag schön klingen, aber die Umsetzung gestaltet sich oft schwierig. Als Mutter finde ich es in den meisten Fällen unmöglich, mich meinen Emotionen völlig hinzugeben. Oft spüre ich, wie die Hitze in mir aufsteigt, ein Kloß im Hals stecken bleibt oder es im Magen kribbelt, wenn mich ein beklemmendes Gefühl überkommt. Nervös drücke ich diese Empfindungen weg, weil ich unbewusst weiß, dass ich keine Zeit für sie habe. Wenn dann meine Tochter schlechte Laune hat und mein Sohn in genau diesen Momenten einen Erzählungsdrang verspürt, atme ich die Druckstellen in mir mühsam weg und setze für meine Kinder mein schönstes Lächeln auf. Schließlich möchte ich für sie da sein, ihr Anker. Doch die großen Gefühle lassen sich nur begrenzt aufhalten. Je länger ich versuche, die Tür zuzuhalten, desto stärker drücken sie dagegen, bis sie mit geballter Kraft die Tür aufstoßen und sich in Form von Reizüberflutung, Erschöpfung oder Wutausbrüchen zeigen. Gereizte Kinder, eine gestresste Mutter und Frust sind die Folge – und oft noch mehr belastende Emotionen.

Es müsste ein Umdenken stattfinden

Um nicht zum abgenutzten Schuh zu werden, der kaum reparabel ist, sind Emotionsregulationen äußerst wichtig. Aber wie können wir in einer Gesellschaft, in der psychisches und physisches Wohlbefinden nachrangig sind, Orte der Erholung schaffen? Wie ist es möglich, in einer Kultur, die menschliche Gefühle ständig für Leistungsdruck beiseite schiebt, diesen gerecht zu werden?

In einer Zivilisation, in der selbst Kinder lernen müssen, ihre Gefühle zu unterdrücken, wird es fast zu einem rebellischen Akt, sich Pausen zu gönnen, hemmungslos zu weinen oder laut gegen Ungerechtigkeit zu protestieren. Es erfordert Mut, mit einem niedergeschlagenen Gesichtsausdruck zum Elternabend zu gehen und Smalltalk zu meiden, weil man in seiner Traurigkeit verharren möchte. Und wer trifft sich schon gerne mit einer wütenden Freundin? Es sollte normal sein, dass wir alle mit einer vielfältigen Palette von Emotionen ausgestattet sind, die sich täglich ausdrücken möchte.

Gefühle brauchen viel Platz und dieser Platz fehlt in unserer Welt.

Ich habe beschlossen, nicht mehr vorzugeben, stark zu sein. Denn in Wahrheit bin ich es nicht, wenn täglich unzählige Verpflichtungen, erschütternde Bilder aus aller Welt und Sorgen auf mich einprasseln. Ich will mich entscheiden, Schritt für Schritt auf dieses Wunder namens Hirnrinde zu vertrauen, die mir zeigt, dass die Emotionen, die sich täglich melden, wichtige Botschaften für mich haben. Ich will jedes Mal, wenn ich spüre, dass ich meine Gefühle wieder einmal abweise, innehalten und sie willkommen heißen. Manchmal nur stückweise, weil es manchmal einfach nicht anders geht. Ich will achtsam und verständnisvoll mit den emotionalen Besuchern umgehen, die immer wieder unerwartet auftauchen.

Vielleicht ist es utopisch zu hoffen, dass mentale und emotionale Gesundheit in der Gesellschaft irgendwann wichtiger genommen werden als das Wirtschaftswachstum. Aber früher oder später werden die aufgestauten Gefühle einer ganzen Gesellschaft gegen eine Tür drücken, die zu brechen droht, wenn wir sie nicht endlich öffnen.

Wir müssen nicht alles alleine bewältigen. Das Thema Gefühle und Emotionen lässt sich trotz aller Ratgeber und selbst erworbenem Wissen nicht immer allein meistern. Deshalb halte ich es für unglaublich wichtig, sich Hilfe zu suchen, wenn man sie braucht. Ich bringe meine Gefühle regelmäßig in Therapiesitzungen ein. Es fühlt sich an, als würde mein abgetragener Schuh bei jedem Besuch ein wenig geflickt. Ich glaube, wir alle sollten uns mehr verbinden und teilen, was uns am Herzen liegt. Es ist wichtig, dass Emotionalität in der Gesellschaft mehr Bedeutung bekommt, denn ich bin überzeugt, dass die Welt besser wäre, wenn das der Fall wäre.

Ein paar Informationen aus diesem Text entstammen aus folgendem Link (auch interessant für diejenigen die noch tiefer in das Thema „Emotionen“ eintauchen möchten):

Was ist Emotion? Von Mimik bis Hormon (dasgehirn.info)

Wirksame Übungen für emotional herausfordernde Momente gibt es unter anderem hier:

Beruhigen Sie überwältigende Emotionen – Der Emotionskompass (emotioncompass.org)