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Zum Muttertag

Mitten in der Nacht sitze ich vor einem leeren Blatt, mit der Absicht, Worte zu finden – Worte, die mir nicht mühelos über die Finger auf die Tastatur gleiten. Worte über das Muttersein.

Immer wieder denke ich über die Mutter nach. Weil es mich betrifft. Weil es uns alle betrifft. Denn jede:r hat den Weg durch den Körper einer Mutter genommen, bevor er oder sie Jura studierte, Politikwissenschaften vertiefte oder sich zur Pflegefachperson ausbilden ließ.

Auch die Mobbenden, die Gemobbten, diejenigen, die auf der Straße leben, und die, die mit ihren Yachten durch die Buchten des Mittelmeeres cruisen – alle fanden auf dieselbe Weise durch die Mutter ihren Platz, an dem sie sich heute befinden.

Wir Mütter genießen hin und wieder Lob – solange die äußeren Umstände stimmen. Bewundernde Blicke begleiten uns, wenn die Szenerie ins gesellschaftliche Bild passt, doch es braucht nicht viel, bis kritische Zeigefinger auf uns gerichtet werden.

„Hättest du es dir eben früher überlegen sollen.“ „Sie haben Ihr Kind ja gar nicht im Griff!“ „Da ist wohl etwas bei der Erziehung schiefgelaufen.“ „Wie, dein Kind studiert nicht ethnologische Selbstverteidigungspsychologie und arbeitet stattdessen als Toilettenputzperson?“

Vielleicht bedeutet Muttersein, mit einer Lungenentzündung und einem geschwollenen Fuß sich um psychisch kranke Menschen zu kümmern, damit die Krankenkassenrechnung und die Wohnung bezahlt werden können. Damit die eigenen Kinder einen unvergesslichen Tag im Vergnügungspark erleben können.

Vielleicht bedeutet Muttersein, über ein Jahrzehnt hinweg mit kaum mehr als drei Stunden Schlaf zu leben – begleitet von einem ständigen Ziehen im Rücken, verursacht durch unermüdliches Tragen, Bücken, Aufheben, Wäscheberge bezwingen.

Vielleicht heißt es, einem Kind das Sprechen beizubringen, während Fachleute nur Hoffnungslosigkeit sehen, weil etwas im Gehirn fehlt, das andere Kinder haben.

Es bedeutet möglicherweise Augenringe, Reizüberflutung, Kopfschmerzen, Dehnungsstreifen und eine geschwächte Körpermitte. Es bedeutet immer eine Entscheidung zwischen zwei Gegensätzen: Zeit fürs Kind oder Zeit für die Arbeit. Burnout oder finanzieller Ruin. Gesellschaftliche Anerkennung (wenn die Bedingungen stimmen) oder das Leben am Rand.

Es bedeutet so vieles gleichzeitig, was in einem nächtlich geschriebenen Text gar keinen Platz findet. Es muss gefühlt werden, um verstanden zu werden, was es bedeutet diesen Mutterberg hinaufzuklettern – meistens allein, mit Schürfwunden, Sonnenbrand und Dehydration.

Wir Mütter haben uns aus der Rolle der unsichtbaren Hilfskraft im eigenen Haushalt herausgekämpft – hin zu einer Unabhängigkeit, die oft nur scheinbar existiert. Heute dürfen wir arbeiten, unsere eigenen Sehnsüchte verfolgen, Teil der gesellschaftlichen Gestaltung sein. Trotzdem droht uns die Armut im Alter, nachdem wir Jahrzehntelang unser Bestes gegeben haben, um Teil dieses Systems zu sein.

Es bleibt diese unsichtbare Kette, tief verankert in patriarchalen Strukturen. Es bleibt das nagende Gefühl des Versagens, die unerreichbare Vorstellung, jemals genug zu sein. Die Schuldgefühle, der Druck auf der Brust – die ständige Angst, es falsch zu machen: zu wenig, zu viel, zu laut oder zu leise. Was bleibt ist die Erschöpfung, die nie ganz verschwindet, der Kopf, der manchmal zu explodieren droht wegen den vielen kleinen Türmchen, zwischen denen man sitzt und die immer höher gebaut werden müssen – niemals umkippen dürfen.

Und was bleibt, ist die Liebe zu den eigenen Kindern – sie sind der Antrieb. Immer wieder. Jeden Tag.

Dieses Herz, das zu zerspringen droht, weil diese kleinen Menschen die Welt bedeuten. Weil man für sie alles tun würde – selbst mit Zahnstochern zwischen den Augenlidern, selbst mit vierzig Grad Fieber.

Der Stolz, der sich ausbreitet, wenn sie ihr erstes Wort sprechen, ihre ersten Schritte wagen, zum ersten Mal allein einkaufen gehen. Wenn sie auf dem Spielplatz ein anderes Kind trösten, das sich verletzt hat.

Und plötzlich vermischen sich Wehmut und Freude, Nostalgie und Erleichterung. Gefühle, die unkontrolliert durch den Körper wirbeln. Immer gleichzeitig.

Zum Muttertag – und eigentlich an jedem einzelnen Tag – wünsche ich mir, dass die Gesellschaft den Alltag für alle erleichtert. Dass Elternschaft nicht zur Bürde wird, sondern im Gegenteil, aktiv unterstützt. Denn, seien wir ehrlich: Die Kinder von heute sind die Erwachsenen von morgen.

Die unsichtbare Sorgearbeit, die dahinter steckt, verdient weit mehr als eine symbolische Wertschätzung mit Blumen – nicht nur am Muttertag, sondern an jedem Tag.

Ikigai- das gute Leben

Eine japanische Lebensphilosophie

Gestern bin ich zum ersten Mal auf das Wort Ikigai gestoßen. Es liegt zart auf der Zunge, mit einer verborgenen Schärfe – als würde es einen geheimen Kern von Kraft in sich tragen. Es erinnert mich an ein Powergetränk oder einen Selbstverteidigungskurs – etwas, das nicht nur belebt, sondern gleichermassen ermächtigt und erfüllt. Vielleicht sind es die kühleren Tage, die in mir den Wunsch wecken, mich intensiver mit Spiritualität auseinanderzusetzen. Vielleicht ist es aber auch das Gefühl, dass die Welt an einem Wendepunkt steht – ein Moment, in dem wir mehr denn je Zugang zu innerer Weisheit und echter Verbundenheit brauchen.

Es sind Zeiten, in denen mir oft die Sprache fehlt. Worte scheinen nicht auszureichen, um das zu beschreiben, was ich fühle, was ich sehe, was tief in mir arbeitet. Es ist, als läge ein unsichtbarer Schleier über uns allen – ein Schutz vielleicht, aber auch eine Barriere, die die Klarheit nimmt. Und doch halten wir lächelnd an der Oberfläche fest, während die Welt brennt. Ein Feuer, das uns früher oder später alle erreichen wird – viele stehen bereits in den Flammen. Ich spreche von Krieg, von Armut, von Rassismus, von Ausgrenzung, von Macht und Gier, von Gewalt – sichtbar und unsichtbar, laut und leise, emotional und physisch.

Ein gutes Leben

Es ist das, wonach wir alle suchen, und doch bleibt es unerreichbar, solange die Waage im Ungleichgewicht schwingt. Ikigai – es braucht Balance. Ein Geben und Nehmen. Etwas Gutes für mich, etwas Gutes für dich.

Es braucht den Mut, sich der eigenen Intuition zu öffnen, den Zugang zur inneren Weisheit freizulegen. Es braucht Frieden – nicht nur im Inneren, sondern auch dort, wo er sichtbar wird.

Es braucht das tiefe Wissen, dass wir untrennbar miteinander verbunden sind. Solange Freiheit nicht für alle gilt, wird sie niemals vollkommen sein.

Aber was bedeutet Ikigai eigentlich genau? Nun, es besteht aus vier Grundfragen:

Was liebst du?

Worin bist du gut?

Was braucht die Welt?

Wofür kannst du bezahlt werden?

Ich glaube fest daran, dass die Antworten auf unsere tiefsten Fragen bereits in uns schlummern. Vielleicht können wir nicht alle ausschließlich von dem leben, was wir aus tiefstem Herzen lieben. Aber wir können uns zumindest darauf zubewegen – Schritt für Schritt mehr von dem zu tun, was uns Freude bereitet.

Und vielleicht können wir auch mehr tun, um die Welt ein kleines Stück zu heilen. Es gibt immer etwas. Manchmal ist es nur ein offenes Ohr, eine ehrliche Begegnung, ein Moment des Zuhörens.

Was bedeutet es eigentlich, gut in etwas zu sein? Selbst wenn jemand nur darin glänzt, Karotten zu schnippeln – dann ist es Karotten schnippeln.

Ikigai fasziniert mich. Vielleicht, weil es meine Gedanken herausfordert und neue Verbindungen in meinem Kopf schafft. Vielleicht, weil es mich zum Nachdenken bringt, weil es mich innehalten lässt. Und weil alles im Aussen schief wirkt, als wäre die Welt doch eine Scheibe mit einem Rand – alles könnte jederzeit herunterfallen – wünschte ich, wir würden wieder mehr das Runde spüren. Die Verbindung, die Intuition, die Liebe und die Freude.

Ikigai.
















Nachricht an Copilot

Gehackt

Ich gehöre sicherlich zu den Menschen, die manchmal ein wenig zu gutgläubig durchs Leben gehen. Ich glaube immer an das Gute im Menschen – daran, dass bei allen, noch so bösen Leuten, ein Fünkchen Nettigkeit vorhanden ist, das sich unter gegebenen Bedingungen entfachen könnte. Ich glaube manchmal auch an die Möglichkeit, vom Glück erfasst zu werden – an die Chance, eines Tages Gewinnerin eines Sechsers im Lotto zu werden oder dass eines Tages ein Brief in meinen Briefkasten flattern könnte mit der Aufschrift: „Du hast ein Haus in Andalusien gewonnen!“ Theoretisch könnte so etwas durchaus passieren – gibt es doch immer wieder Geschichten von Menschen, die im Lotto gewinnen oder sonst ungewöhnliche Geschenke vom Leben bekommen. Warum denn eigentlich nicht?

Doch in letzter Zeit landete meine Vertrauensseligkeit etwas zu oft auf dem Prüfstand: Eines Dienstagmorgens erhielt ich einen Anruf von einer mir unbekannten Nummer. Da es sich jedoch um eine Handynummer handelte, ging ich davon aus, dass ich die Person kenne. So war es jedoch nicht, und ich telefonierte kurzerhand mit einer sympathisch klingenden Frau, die mir seelenruhig verkündete, dass ich eine Reise gewonnen hätte. Natürlich klingelten zunächst die Alarmglocken in mir. Trotzdem tanzten – wie manchmal in Filmen – ein Teufelchen und ein Engelchen auf meinen Schultern, wobei das Teufelchen mir zuflüsterte, dass diese Frau doch sehr vertrauenswürdig klänge und ich vielleicht tatsächlich einmal etwas gewonnen hätte! (Ich muss hinzufügen: Ich meinte mich erinnern zu können, dass ich mal an einem Gewinnspiel teilgenommen hatte – aber was war das noch mal?)

Bevor ich mich zu früh freuen wollte, ließ ich mir mehr Details geben. Je mehr sie mir von der gewonnenen Reise erzählte, desto plausibler klang die Geschichte. Das Engelchen im Hintergrund riet mir, wachsam zu bleiben und einfach abzuwarten, was passiert. Die Frau kannte meine gesamten Daten, und sie klang – ich muss es wirklich noch einmal betonen – wirklich sympathisch (sie zählte mir sogar auf, was ich zum Frühstück bekommen würde und wie lange die Fahrt zu diesem Hotel an der Ostsee dauern würde).

Ob ich denn auch noch interessiert wäre an einer Zeitschrift – nur eine einmalige Ausgabe – ich müsse nur ein Abonnement abschließen, sollte ich Interesse bekunden am Lesen besagter Zeitschrift. An dieser Stelle hätte ich den Hörer auflegen sollen. Denn hier begann die Odyssee mit dem Zeitungsvertrag, den ich nie abgeschlossen hatte. Reisedokumente habe ich übrigens nie bekommen.

Vielleicht habe ich aus dieser Erfahrung gelernt, keinen unbekannten Menschen zu vertrauen, nur weil sie „nett“ klingen. Was ich aber nicht gelernt habe, ist, dem Internet nicht zu vertrauen – und zwar nie! Das Internet ist ein Ort der Täuschung und der Versprechungen. Wir stecken alle fest in diesem Ozean der vermeintlichen Möglichkeiten und dem ungeahnten Potenzial der Verbindungen, die wir durch die sozialen Medien eingehen. Schon länger tuckere ich mit gemischten Gefühlen auf diesem offenen Meer, das mich einerseits bis in die Küchen, Keller und Badezimmer unbekannter Lebensrealitäten führt, andererseits immer wieder die Frage aufkommen lässt: Was macht das eigentlich mit mir und mit uns allen, wenn wir ständig reizüberflutet werden durch die täglichen Storys, die wir konsumieren? Und nicht nur das: Es gibt viele Geschichten von Menschen, die durch das ständige Vergleichen der Leben in tiefe Depressionen sinken. Trotzdem habe ich – insbesondere durch Instagram – ein paar wertvolle Begegnungen gemacht, und ich habe die Möglichkeit, kritischen Stimmen zu einem ansonsten medial verschlossenen Thema zuzuhören und Hintergrundinformationen über alles Mögliche zu erhalten.

Das Internet – insbesondere Instagram – hat mein Leben schon öfter verändert oder nachhaltig beeinflusst, weshalb ich die positiven Aspekte durchaus anerkenne, die es mit sich bringt.

Und so komme ich zum jüngsten Ereignis, durch das ich meine Gutgläubigkeit einmal mehr am liebsten gegen die Wand geschleudert hätte: Ich wurde gehackt. Wie es dazu kam, ist fast schon peinlich und spiegelt meine Unachtsamkeit wider in diesem unsicheren Ozean des Internets. Ich erhielt eine Nachricht via Instagram von einer Bekannten. Ich hatte sie schon einmal kennengelernt, und unsere Jungs sind über ihre Gaming-Plattformen befreundet. Sie ist eine sympathische, liebenswerte Mutter und postet regelmäßig aus ihrem Alltag. Deshalb erschien mir ihre Nachricht völlig unauffällig, als sie mir auf Schweizerdeutsch schrieb, ob ich sie bei ihrem neuesten Projekt unterstützen könnte – sie baue sich gerade ein neues Standbein mit dem Verkauf von Kleidern auf. Na klar, antwortete ich. Schließlich weiß ich, was es bedeutet, selbstständig zu sein und gleichzeitig Kinder großzuziehen. „Wie kann ich dich unterstützen?“, fragte ich, noch immer voller Gutmütigkeit. (Hier beginnt der Teil mit dem „Gegen die Wand klatschen wollen“.)

Sie bedankte sich, und ich klickte auf den Link, den sie mir umgehend schickte. Schon war es zu spät. Erst ein paar Stunden später bemerkte ich, dass plötzlich seltsame Dinge auf meinem Instagram-Account gepostet wurden. Zunächst konnte ich mich noch einloggen und sah die fremden Storys und Feed-Beiträge, die Bitcoin und angebliche Kontoauszüge enthielten. Als ich alles löschen wollte, wurde ich plötzlich aus meinem Account geworfen und hatte keinen Zugriff mehr. Erst später erfuhr ich, dass besagte Bekannte in dieselbe Falle getappt war und sich nun ebenfalls mit den mühsamen Folgen des Hackerangriffs auseinandersetzen musste

Mein Telefon klingelte fast pausenlos – immer mehr Kontakte fragten mich, ob ich ihnen etwas über meine angebliche Bitcoin-Investition erzählen könne. Andere warnten mich davor, möglicherweise Opfer eines Hackerangriffs geworden zu sein. Ich begann mir Sorgen zu machen, was eine unbekannte Person alles in meinem Namen anstellen könnte und was mit meinen im Archiv gespeicherten Fotos geschehen würde. Was werden meine Follower:innen denken? Werde ich womöglich alle verlieren – und damit auch meiner sorgfältig aufgebauten Kontaktliste mit Menschen, mit denen ich wirklich gerne in Verbindung stehe, besonders wegen meiner Leidenschaft zum Schreiben?

Es erschreckte mich, wie sehr ich doch von dieser einen Plattform abhängig bin, die für viele ein eigenes Universum darstellt. Wie schnell ich in die Falle eines Systems geraten konnte, das im Grunde darauf abzielt, Menschen auszunutzen – denn wir sind nun einmal Wesen, die sich vernetzen wollen und anderen Menschen vertrauen. Das Traurige ist: Die Bekannte, durch deren Profil ich auf diese fiese Masche hereingefallen bin, fühlt sich schuldig, mich mit hineingezogen zu haben. Dabei kann sie überhaupt nichts dafür! Es ist ein Armutszeugnis, dass Menschen, die mit reinem Herzen durchs Leben gehen, sich selbst die Schuld geben, wenn sie Opfer hinterhältiger Machenschaften werden.

Vermutlich ist genau das der Grund, weshalb ich das Bedürfnis verspürte, meine Geschichte zu teilen: um über die Scham zu sprechen. Ich möchte mich eigentlich nicht dafür schämen, in eine Falle getappt zu sein – und doch tue ich es. Denn es ist der gleiche Ort, der innerhalb kürzester Zeit Erfolg bringen und ihn im nächsten Augenblick zunichtemachen kann.

Nun befinde ich mich in einer Schwebe – mein altes Profil liegt in Trümmern, ein neues ist noch nicht erstellt. Eine Situation, die Veit Lindau, Lebenscoach und Autor, als wertvoll bezeichnen würde: Ein Chaos bedeutet nur, dass sich das Leben neu sortiert.

Ein bisschen Frida

Es gibt Phasen im Leben, in denen man das Gefühl hat, die Welt stünde still. Bei mir kündigte sich diese Phase im Jahr 2020 an. Im Geist herrschte turbulentes Treiben, und der Körper führte automatisch die Befehle aus, die ihm gesendet wurden – fast wie ein Roboter. Ich versuchte, alle Bauklötze, die mein Leben bedeuteten, so anzuordnen, dass sie ein stabiles Fundament bildeten, das mich durch den Alltag trägt. Doch so sehr ich mich bemühte, die Steine zu stapeln, wurden sie immer brüchiger und bildeten Risse, bis das Gerüst seinen Halt verlor und auseinanderfiel. Ich fragte mich, ob ich selbst schuld an den kaputten Stellen war. Bei manchen möglicherweise schon, bei anderen waren die Hürden einfach zu groß und ich zu klein.

Mit brüchigen Klötzen ist es schwer, den rauen Alltag zu bewältigen. Als Mutter brach es mir das Herz, den Bausteinen beim Zerfallen zuzusehen – bedeuteten sie doch nicht nur mein Fundament, sondern auch das meiner Kinder. So stand die Welt für einen Moment still.

Aber manchmal muss sie das. Manchmal muss die Welt stehen bleiben, manchmal muss es ein bisschen wehtun. Wie bei Muskeln, die nur dann wachsen, wenn sie brennen. Es sind auch die Bitterstoffe, die die Leber unterstützen – nicht die süßen Gelüste. So gab ich mich den brennenden Muskeln und der Bitterkeit hin, um innerlich wachsen zu können.

Eine Stimme in mir wurde geweckt. Sie wollte lauter werden und sich mitteilen – eine Stimme, die schon immer tief in mir wohnte und nicht mehr schweigen konnte. Denn ich fragte mich: Kann es wirklich sein, dass ich in einer Welt lebe, in der Leistung wichtiger ist als Gesundheit? In der ein entspanntes Leben an Bedingungen geknüpft ist, die nur einem Teil der Bevölkerung zustehen?

Ich dachte an Frida Kahlo, liess mich von ihr inspirieren. Auch sie kämpfte mit ihrer Körpermitte – mit ihrem Rücken, ihrer Gesundheit. Auch für sie blieb die Welt stehen – nicht nur einmal. Sie hatte nur sich selbst, Tag ein, Tag aus, und erkannte, dass es im Grunde immer so war und immer so bleiben wird. Ich schloss in dieser Zeit Freundschaft mit mir selbst und begann, durch das Schreiben eine Verbindung zwischen meinem Inneren und dem Äußeren herzustellen.

Ich erkannte, dass es nicht der Kampf ist, der sich lohnt. Es sind die Konstanten des Lebens – Achtsamkeit und Hingabe –, die Bedeutung tragen. Es lohnt sich, den Schmerz zu umarmen, ihn zu fühlen, ihn an die Hand zu nehmen und durch Kreativität greifbar zu machen, um dem Alltag neue Farben zu schenken.

Wenn die Welt stehen bleibt, sollten wir vielleicht alle ein bisschen wie Frida sein: Sie zeigt uns, dass sowohl persönliches wie kollektives Leid nicht das Ende sein muss. Vielmehr kann es ein Treibstoff sein, der uns zu Veränderung ermutigt, in uns die Schöpferkraft erweckt und uns zu persönlichem Wachstum antreibt. Fridas Kunst entstand aus den Schmerzen ihrer physischen und emotionalen Qualen, und dennoch strahlt sie eine transformative Kraft aus, die Leben und Hoffnung widerspiegelt.

Als Gesellschaft stehen wir vor kollektiven Herausforderungen. Soziale Ungleichheit, Umweltkrisen oder politische Konflikte – es gibt dramatisch viele Gründe, mutlos zu sein. Die Welt braucht deshalb mehr denn je die Kraft, Leid in Schönheit, Schmerz in Innovation und Herausforderungen in Wandel zu transformieren.

Die Frage ist nicht, ob wir diese Fähigkeit besitzen, sondern wie wir sie entfesseln können. Vielleicht liegt die Antwort in der Kunst, vielleicht in der Kreativität, oder vielleicht einfach im Mut, auch im Dunkeln nach Licht zu suchen und die Hoffnung, trotz Ohnmacht, nie aufzugeben.

Urlaub ist ein Opportunist

Es ist drei Uhr morgens, und ich bin mir nicht sicher, ob der Tag beginnt oder die Nacht endet. Oder ob sie vielleicht nie wirklich begonnen hat – die erste Nacht der Schulferien. Lange ersehnt sind die Tage, an denen ausgeschlafen und Erlebnisse geschaffen werden können. Doch um drei Uhr morgens, wenn Kinderfüße unabsichtlich in meine Rippen stoßen und das rosa Faultier in meinem Gesicht landet, beginnen meine Gedanken zu kreisen:

Wie soll ich diesen Urlaub so gestalten, dass ich für die Familie Spaß, Entspannung, Abenteuer und Arbeitszeit unter einen Hut bringen kann? Wie kann ich selbst Nervenzusammenbrüche und Schmerzen im Rücken vermeiden, wenn ich ununterbrochen auf Empfang bin und mich Schuldgefühle begleiten? Schuldgefühle, weil ich schon um drei Uhr morgens Erschöpfungszustände bekomme, während es auf dieser Welt Menschen gibt, die sich wünschen würden, sie hätten ein Bett, in dem sie von ihren Kindern nachts getreten werden könnten. Schuldgefühle, weil ich mich immer wieder frage, ob ich irgendetwas anders machen müsste – besser, schneller, größer, schlauer.

Schuldgefühle, weil es nicht die Kinder sind, die den Nervenzusammenbruch herbeiführen, sondern weil der Urlaub ein Opportunist ist.

Mir scheint nämlich, als würde sich dieser Urlaub nur bestimmte Menschen aussuchen, die sich an seiner seelentröstenden Wirkung erfreuen können: Menschen mit Geld, Menschen mit einem Auffangnetz, Menschen mit geteilter Betreuung für die Kinder und Menschen mit Gesundheit und stabilen Lebenssituationen. Deshalb fühle ich mich oft vom Urlaub hintergangen, denn wenn er mir mitten in der Nacht den Mittelfinger zeigt und mir einen vollen Beutel mit Aufgaben hinterlässt, die bewältigt werden müssen, fühlt er sich wie ein mieser Verräter an.

In den frühen Morgenstunden schleiche ich mich in die Küche. Heißes Wasser löst den Instantkaffee in meiner Tasse auf. Ich blicke auf das aufgetürmte Geschirr in der Spüle und überlege einen Moment, meinen Laptop aufzuklappen, bevor ich mich ans Aufräumen mache. Es gibt so vieles in meinem Kopf, über das ich schreiben möchte. Angefangene Arbeiten möchte ich abschließen, fristgerecht Texte einreichen. Doch auf dem Weg zum Büro, wo sich mein Laptop befindet, stolpere ich über herumliegende Unterwäsche und Socken, die ich zuerst in den Wäschekorb schmeiße, denn unaufgeräumt kann ich mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren.

Ehe ich mich in der Stille des frühen Tages verlieren kann, höre ich die Stimmen der Kinder, die einen Streit austragen. Mein Herz klopft schneller, Hitze steigt in mir auf. Ich fühle mich nicht bereit, meine ruhigen Morgenstunden schon aufzugeben. Doch der Laptop bleibt geschlossen, mein Fokus auf die Kinder ist gefragt. Mein System schaltet auf Autopilot. Ich erledige eine Aufgabe nach der anderen, ohne Pause und ohne Rücksicht auf mein Befinden. Denn ich möchte alles für die beiden geben, um ein „Mama, warum fahren alle in den Urlaub nur wir nicht?“ zu vermeiden. Es liegt aber auch am nicht Aushalten können des ewigen Chaos‘. Wenn sich die Wohnung mit fortschreitender Tageszeit in ein wildes Durcheinander verwandelt, werden meine Sensoren überlastet und ich werde nervös. Ich brauche Ordnung, um denken zu können, und Struktur, um den Tag zu meistern. Ich brauche einen Plan.

Einen Plan, der den Tag befriedigend vorübergehen lässt. Auch wenn ich heimlich davon träume, die Koffer zu packen, ein paar Tage wegzufahren und in einer fremden Stadt in süßen Läden und Cafés zu verweilen. Und wenn wir vom Tapetenwechsel zurückkämen, mich tagsüber hinter meinem Computer zu verschanzen, mit Cappuccino und Wolldecke in die Tasten zu hauen. Abends dann die Kinder von einem spielreichen Tag in der Auswärtsbetreuung abzuholen und nach dem Zubettgehen gemütlich vor dem Fernseher die Wäsche zu falten. Und dann wäre natürlich auch ein Ausflug ins Verkehrshaus oder das Technorama möglich, ohne über Geld nachzudenken. Wir würden kein Picknick von zu Hause mitnehmen, sondern vor Ort im Restaurant speisen. Ich hätte Zeit für meine Rückenübungen und alle schmerzlindernden Massnahmen. Urlaub wäre auf diese Weise mein bester Freund.

Aber es gibt Wege, den Urlaub zu überlisten und ihm die kalte Schulter zu zeigen. So wie heute, als eine Freundin und ich uns mit den Sprösslingen in Überzahl in ihr Auto quetschen, unsere Ferienkassen zusammenlegen für den Adventuredome, den wir eine Stunde nutzen können, ehe er unser Budget sprengt. Wir teilen unsere Erschöpfung, verdoppeln unsere Essensvorräte. Da scheint sich die Last auf einmal zu halbieren. Da fühlt sich ein Nachmittag im Foodcorner des Westsides mit unserem Mitgebrachten von zu Hause plötzlich an, als säßen wir in einem Ferienresort. Da empfinden wir es überraschend gemütlich, das Einkaufscenter für uns zu haben, weil die meisten irgendwo in den Bergen einen Hang hinunterrutschen.

Dann wird mir bewusst, dass nicht der Urlaub der Opportunist ist, sondern das System, das sich auf Kosten der Gesellschaft bereichert. Ein System, das Unzufriedenheit und Leistungsdruck als Treibstoff nutzt, um die Wirtschaft zu füttern und Geld zu scheffeln. Ich realisiere, dass es enorm viel Kraft kostet, am Rande mitzuschwimmen. Gleichzeitig erkenne ich, dass es möglich ist, den Opportunisten auszuspielen, indem wir uns vernetzen und unsere Ressourcen bündeln. Schritt für Schritt. Es ist nicht leicht und es liegen viele Steine auf dem Weg sich für eine zufriedenere Gesellschaft einzusetzen. Aber vielleicht müssen wir uns immer wieder solidarisieren und nicht aufhören, für eine Kultur zu kämpfen, in der sich niemand vom Urlaub hintergangen fühlt. Eine soziale Struktur kultivieren, die keinen Urlaub benötigt, sondern auf Gemeinschaft, Gleichberechtigung sowie mentale und körperliche Gesundheit ausgerichtet ist. Wo Verzicht nicht mit Versagen gleichgesetzt wird, sondern zum Wohl der globalen und klimatischen Gesundheit angestrebt wird. Ein Urlaub, der nicht nur der Elite vorbehalten ist, sondern zum Lifestyle für alle wird – ohne den Beigeschmack des Kapitalismus.

Sprachlose Begegnungen, wie leuchtende Blumen im Nebel

Ich glaube, ich bin sprachlos. Seit Tagen beginne ich immer wieder neue Blogbeiträge, feile an Texten, die ich dann nach ein paar Mal durchlesen wieder lösche. Sie erscheinen mir in einem Moment sehr wichtig zu sein und im nächsten Moment verflüchtigt sich jeglicher Sinn hinter meinen Zeilen. Zuerst begann ich mit einem Text über meine Begegnung im Krankenhaus letzten Dezember. Ich erzählte, wie ich in meinem verletzlichsten Moment eine berührende Begegnung hatte. Wie sich meine Zimmernachbarin und ich die ganze Nacht unterhielten und uns gegenseitig wahrhaftig zuhörten. Ich lauschte ihrer Geschichte und fühlte mit ihr ihren Verlust. Ich schrieb darüber, wie sich unsere Freundschaft über unsere gemeinsame Erfahrung im Spital hinaus weiterentwickelt hat und es für mich in Zeiten wie diesen, in denen tiefe Verbindungen durch die sozialen Medien vom Aussterben bedroht sind, ein Geschenk war, sie kennenzulernen

Ich möchte darüber berichten, wie nährend ein tiefgründiger Austausch sein kann und wie wichtig es ist, Mitgefühl zu kultivieren. Mir scheint, als ob auf der Autobahn des Lebens die Räder immer schneller drehen und ihre Überhitzung nur noch eine lästige Randnotiz in den Köpfen der Fahrenden geworden ist. Sie ignorieren dabei getrost, dass Unachtsamkeit früher oder später zu einem gewaltigen Crash führen wird.

Ich wollte auch darüber sprechen, wie sehr mich die Ungleichheit frustriert, die ich, obwohl ich in einem privilegierten Land lebe, immer wieder zu spüren bekomme. Es gibt nach wie vor Unterschiede in der Hautfarbe, im Namen, im kulturellen Hintergrund, im sozialen Status, im Geschlecht und in den Voraussetzungen. Nein, die Bedingungen sind nicht für alle gleich. Ich möchte nicht mehr müde sein deswegen, weil es das Unausgesprochene, Subtile ist, was erschöpft, aber ich bin es immer wieder.

Vielleicht sollte ich keine tiefgründigen Bücher mehr lesen und mich von den eindrücklichen Bildern abgrenzen, die ich durch die wahren Geschichten und Schicksale einzelner Mitmenschen unweigerlich aufnehme. Vielleicht wäre es besser, meinen Kopf nicht darüber zu zerbrechen, wie herzlos die Mächtigen der Welt sind und wie gleichgültig die Wohlstandsgesellschaft damit umgeht. Denn ich habe genug zu tun mit den alltäglichen Fluten an Anforderungen, denen wir alle gerecht zu werden versuchen. Vielleicht täte ich gut daran, mich zurückzulehnen und als stille Beobachterin dem Spektakel zuzuschauen. Hinzunehmen, dass einfache Dinge, die für die einen selbstverständlich sind, für die anderen ein immenser Kraftakt bedeuten. Vielleicht… vielleicht sind Burnouts, ganz gleich ob durch Elternschaft, Arbeit oder Weltschmerz verursacht, nur eine neue Form von Grippe.

Aber dann meldet sich mein Herz zu Wort, das schwer wird bei jedem Femizid, bei Verletzungen der Menschenrechte, bei Ausbeutung und Gier, bei Krieg und Unterdrückung. Mein Herz kribbelt, wenn die endlose To-do-Liste nie kleiner wird. Mir schnürt es den Magen zu, wenn die Kinder schon in den Strömungen des Lebens schwimmen. Kleine Gestenbringer, Träumende, Kunstschaffende, Mitfühlende, berühren mich stärker als je zuvor, als wären sie leuchtende Blumen in einer vernebelten Landschaft. Dann möchte ich über sie schreiben, wie kräftig ihre Farben hervorstechen, wenn die Umgebung so trüb wirkt. Wie hell und zentral sie erscheinen.

Ich möchte all dies zusammenfassen, einen Abschluss finden, eine Moral der Geschichte herauskitzeln. Doch es sind zu viele Sätze, die ich nicht zusammenfügen kann. So merke ich, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll, dass die verschiedenen Texte keinen Zusammenhang haben.

Vielleicht könnte ich einfach darüber schreiben, dass es okay ist, keine Worte zu haben, dass sich das Chaos erst ordnen muss. Dass es nicht immer vorwärtsgehen muss, sondern okay ist, stehenzubleiben. Dass ich es vielleicht einfach aushalten muss, sprachlos zu sein, bis die Sprache den Weg zurückgefunden hat.

Wenn das Feuer der Anfänge erlischt

Die Zeit, als ich noch über meine riesige Kugel streichelte und mich fragte, wer sich unter der runden Bauchdecke zum kleinen Menschen entwickelt, scheint mir so nah und doch, als hätte sie in einem anderen Leben stattgefunden. Sie formte mich, zeichnete Narben, dehnte meinen Horizont und mein Widerstand. Zur gleichen Zeit machte sie mich demütig, nachdenklich, besorgt, durchflutet von Liebe und zeigte mir auf, wie ich mich immer wieder aufs Neue verabschieden muss von den Phasen der Entwicklung, die meine Kinder durchlaufen.

Es war vor ein paar Tagen, als ich mich in der Aula der Oberstufe befand, die mein Ältester nächstes Jahr besuchen wird. Ich sah all die Eltern wieder, mit denen ich gefühlt erst gestern noch auf die stolzen Kindergarten-Kinder wartete, wenn sie mittags aus der Schule kamen. Plötzlich sind die Jahre vergangen, die Babygesichter bekamen jugendliche Züge, bei den Eltern schimmert das eine oder andere silberne Haar hervor. Die aufgedrehten Kinder, die einst mit bunten Zeichnungen nach Hause kamen und ihre übergrossen Rucksäcke mitsamt Leuchtgurte durch die Strassen trugen, haben all dies gegen eine Flut an Hausaufgaben und zunehmenden Verpflichtungen eingetauscht.

„Es wird anstrengend“, unterstreicht die zukünftige Schulleiterin und sieht die Eltern eindringlich an. Ein beklemmendes Gefühl beschleicht mich bei dem Gedanken an mein Kind, das nach der Schule oft kaum noch die Energie hat, mit Freunden zu spielen, und seinen überlasteten Geist am liebsten nur noch in Videospielen entspannen lässt. Dort ist kein großes Denken oder Leisten erforderlich. Dort kann es sich erholen und wird mit Dopamin belohnt.

Ich frage mich immer häufiger, ob das wirklich nötig ist. Muss es sein, dass der wachsende Leistungsdruck die Freude der Kinder immer weiter dämpft? Manchmal fühlt es sich wie eine Bestrafung an, als würde man den Kindern beibringen, dass zu viel Freude und Eigenwilligkeit schlecht sind. Als ob man nur im Hamsterrad überleben kann. Ich möchte meine Kinder vor Enttäuschungen schützen und ihre kindliche Neugier konservieren. Es ist herzzerreißend, zu sehen, wie ihr Strahlen im Schulalltag langsam verblasst. Ich glaube nicht, dass Schule eine Strafe sein sollte. Sie sollte nicht so empfunden werden, und man sollte nicht für etwas getadelt werden, das noch gar nicht passiert ist.

Es scheint, als ginge es den Schulleitungen um einen Wettbewerb, wer die klügsten Köpfe hervorbringt. Dabei wird übersehen, dass diese Köpfe mit ihrer Einzigartigkeit und ihrem eigenen Lerntempo bereits klug genug sind. Sie werden beurteilt, gemustert und angepasst.

Man sucht zwar nach Lösungen, um den Anforderungen der Kinder gerecht zu werden, und sicherlich waren die Zeiten früher auch nicht besser. Dennoch tritt das Schulsystem trotz des heutigen pädagogischen Kenntnisstands auf der Stelle und dreht sich im Kreis. Es ist längst bewiesen, dass Kinder täglich höchstens zwanzig Minuten Konzentration für neuen Lernstoff aufbringen können, doch die Unterrichtszeiten beginnen immer früher und die Nachmittage werden länger. Müde schubse ich morgens meine Kinder aus dem Bett und nachmittags entbrennt im Erschöpfungszustand durch endlose Verpflichtungen der Streit um die Hausaufgaben.

Die Stimmen um mich sind laut: Eltern sind verzweifelt wegen der Depressionen ihrer schulpflichtigen Kinder und suchen ständig nach Wegen, ihnen zu helfen. Eine Liste von Diagnosen, die von Fachärzten gestellt wird, soll Erleichterung bringen, endet aber oft in neuem Frust, wenn die individuellen Bedürfnisse der Kinder ignoriert werden. Es ist, als würden wir alle gegen verschlossene Türen schlagen, hinter denen jemand sitzt, der die Macht hätte, alles zu ändern. Jedes Schlagen an die Tür ist ein mühevoller Akt, der stattdessen in Lebensqualität investiert werden könnte.

Es muss aufhören. Es ist Zeit. Es muss weniger werden. Weniger Druck gemacht, weniger Anforderungen gestellt, weniger Leistung erwartet, dafür mehr Leben gelebt, mehr Miteinander kultiviert, mehr Füreinander gefördert und das Feuer der Anfänge wieder gezündet werden.

„Komplexitätsreduktion“

Gastbeitrag von Andrea Christen

Oder weshalb wir unser Leben vereinfachen sollten.

Komplexitätsreduktion. Ich weiss noch, wann ich dieses Wort zum ersten Mal gehört habe. Es war vor ca. 15 Jahren während meines Studiums der Sozialen Arbeit, in meinem Lieblingsfach Soziologie. Seitdem begleitet mich dieses Wort. Unter anderem, weil es irgendwie wunderbar absurd ist, dass ein Wort, welches sinngemäss „Vereinfachung“ bedeutet, so lang und kompliziert daherkommt.

Aber vor allem, weil es für mich persönlich ein Thema ist. Ständig. In meinem nicht-neurotypischen Gehirn ging es schon immer zu und her wie auf einer Strassenkreuzung in Bangkok – chaotisch und unübersichtlich. Das kann anstrengend sein. Immer, wenn ich nicht mehr weiss, wo mir der Kopf steht, denke ich an „Komplexitätsreduktion“ und frage mich: Wie kann ich es einfacher machen?

Das Leben ist nicht nur komplex, wenn der Verstand anders tickt, es ist auch komplex, wenn das Zuhause voller Zeug ist, das wir nicht brauchen aber managen müssen.

Es ist komplex, wenn wir für andere Menschen Verantwortung tragen.

Es ist komplex, wenn die Agenda keine freien Lücken mehr aufweist.

Es ist komplex, wenn wir Kaufentscheidungen im Internet oder zwischen riesigen Supermarktregalen treffen müssen.

Es ist komplex, wenn uns im Privaten oder bei der Arbeit die Bürokratie in die Quere kommt.

Es ist komplex, wenn wir in einer Flut von Nachrichten aus weissderguggerwievielen Messengerdiensten, Chatgruppen und E-Mailkonten versinken.

Je komplexer unser Leben, desto grösser wird unsere Sehnsucht nach Einfachheit. Das ist ganz natürlich.

Wir leben in einer hochkomplexen Welt mit einem „alten“ Gehirn, das noch für die Zeit der Jäger:innen und Sammler:innen gemacht ist. Kein Wunder, drohen unsere Köpfe da manchmal zu implodieren. Sie sind einfach nicht gemacht dafür, ständig auf Hochtouren Informationen zu verarbeiten. Der Infofluss der unaufhörlich aus unseren smarten Phones plätschert, trägt ganz zusätzlich dazu bei, dass wir nicht mehr zur Ruhe kommen.

Unser Hirn sehnt sich nach Einfachheit. Das ist normal und gut so.

Die Frage ist nur, in welchen Bereichen wir nach dieser Einfachheit suchen. Wenn unser Alltag schon so komplex ist, dass wir kaum noch klar denken können, bleibt uns wenig Kapazität für die wirklich großen und wichtigen Themen. Und genau dann neigen wir dazu, einfache Antworten auf schwierige Fragen zu suchen: Richtig oder falsch? Schwarz oder weiß? Gut oder böse? Wir sind erleichtert, wenn uns jemand sagt, was richtig oder falsch ist, oder wir verschließen einfach die Augen – weil es zu viel wird.

Dabei ist es gerade bei diesen Bereichen entscheidend, dass wir uns die Kapazität für Komplexität bewahren (ob Komplexitätskapazität ein Wort ist?). Wir leben in einer Zeit tiefgreifender Veränderungen, und es ist wichtig, dass wir hinschauen, differenziert urteilen und nicht einfach alles in einfache Schubladen stecken. Denn diese Veränderungen betreffen nicht nur uns, sondern die gesamte Menschheit und die Zukunft unserer Kinder.

Und eigentlich wissen wir alle, dass es wichtig ist uns diesen Themen zu stellen.

Ich arbeite als Einrichtungsberaterin und rede oft über die Themen Reduktion, Einfachheit und Ruhe. Das ist kein Trend, sondern die Grundlage dafür, genug Kraft und Kapazität zu haben, um uns um die wirklich wichtigen Dinge zu kümmern.

Deshalb ist es so wichtig, den Alltag dort zu vereinfachen, wo es nicht so wichtig ist. Und da wo es sinnvoll ist, Entscheidungsmöglichkeiten zu reduzieren. Das sieht für jede:n von uns anders aus. Für mich heisst es konkret:

Mut zur Lücke haben und auch mal Einladungen ablehnen. Zu wissen, dass das Leben weiter geht, auch wenn ich eine interessante Veranstaltung verpasse. Nicht viele, dafür Lieblingskleider zu besitzen, die ich jeden Tag tragen möchte. Nicht auf jede Nachricht sofort zu antworten und regelmässig offline zu sein. Mir bewusst zu sein, dass das Glück meines Kindes nicht davon abhängt, ob es alles bekommt, was die anderen auch haben. In meiner Agenda großzügig Platz für freie Zeit und Langeweile zu lassen, weil diese die Kreativität fördert und uns hilft, Lösungen für komplexe Probleme zu finden.

Also, lasst uns gemeinsam für mehr Ruhe, Einfachheit und freie Zeit sorgen. Es wird nicht nur uns persönlich guttun, sondern auch der Welt. Denn wie Susanne Moser einmal sagte: “Burned out people aren’t equipped to serve a burning planet.”

Zur Autorin

Andrea Christen lebt mit ihrem Sohn in Biel. Sie ist Pädagogin, Sozialarbeiterin und Raum- und Ordnungsberaterin. Schreiben ist für sie gleichermassen Leidenschaft und Seelenbalsam. Sie träumt von einem Raum, in dem sie in Zukunft ihre unzähligen Ideen und Projekte umsetzen kann




Vom Versagen und Scheitern

„I have never tried that before, so i think i should definitely be able to do that“ – Pipi Langstrumpf

Kinder tun tagtäglich etwas, was wir Erwachsenen möglichst zu vermeiden versuchen: scheitern, versagen, vermasseln. An diesem Wort haftet ein negativer Beigeschmack – obwohl es ein Leben ohne das Scheitern gar nicht gibt.

Alles, was wir in der Kindheit gelernt haben, war oft mit Hinfallen, Weinen, Schamgefühl, Scheitern und Fehlern verbunden. Doch gerade so haben wir die erstaunlichsten Dinge gelernt – ganz automatisch und spielerisch. Daher frage ich mich, wann die Bereitschaft, Neues zu lernen, bei vielen von uns verloren gegangen ist. Ab welchem Zeitpunkt wurde es so schwierig, sich auf unbekanntes Terrain zu begeben und einfach von vorne anzufangen?

Kinder lernen den ganzen Tag. Sie stellen Fragen, stechen mutig in unbekannte Gewässer, haben von einigem keine Ahnung und das ist den meisten bis zu einem gewissen Alter eigentlich auch ziemlich egal. Doch irgendwann scheint es, als hätten wir beschlossen, dass wir hoffnungslose Fälle sind, dass Unwissenheit peinlich ist und dass es eine Blamage ist, zuzugeben, dass wir fehlbar sind und weit davon entfernt, allwissend und allmächtig zu sein. Diese vermeintliche Perfektion unseres Erwachsenenbildes führt dazu, dass wir uns in einem ewigen Kampf um ein makelloses Selbstbild befinden. Die Konsequenzen zeichnen sich im Laufe der Zeit durch eine seelische Verkümmerung ab. Dabei könnten wir es wie Kinder handhaben und täglich Neues lernen – ist dieses Neue noch so unbedeutend. Mit einem offenen Geist könnten wir durchs Leben gehen, uns damit abfinden, manchmal etwas nicht zu wissen oder zu können – selbst in Bereichen, in denen wir uns normalerweise sicher fühlen.

Vor einigen Jahren entschied ich mich für eine Lebensweise des Lernens, weil ich die Früchte erkannte, die ich dadurch ernte. Durch meine Rolle als Mutter finde ich es nicht so schwierig, diesen Vorsatz zu halten, da ich noch nie zuvor Mutter war und somit gezwungen bin, mich automatisch jeden Tag dieser Herausforderung zu stellen. Als Mutter erlebe ich oft Déjà-Vus, aber aus einer neuen Perspektive. Plötzlich bin ich die Erwachsene, die ich als Kind beobachtet habe, und sehe die Welt mit anderen Augen. Es ist ein bisschen so, als würde ich eine alte Geschichte neu schreiben, nur, dass ich diesmal eine der Hauptfiguren bin. Trotz meiner enthusiastischen Vorsätze des ewigen Lernens, beobachte ich meine Zurückhaltung dennoch in gewissen Situationen. „Das kann ich sowieso nicht“, oder „das ist viel zu kompliziert für mich, das werde ich wohl nie verstehen.“ Aber wer sagt das eigentlich? Könnte es nicht vielleicht sein, dass ich vieles verstehen lernen kann, wenn ich mich der Herausforderung stelle, kläglich dabei zu versagen? Und dass dieses Versagen, wenn es denn einträfe, völlig ok wäre?

Denn eigentlich ist es nur die Angst, was andere von einem denken könnten, dass wir das Scheitern vermeiden. Gäbe es niemand der uns beobachten könnte, wäre es egal, ob wir Fehler machen bei Dingen, die wir noch nicht können. Ich glaube wir alle sollten öfter den Mut aufbringen, auch mal schlecht zu sein in etwas. Nicht immer erst das perfekte Resultat zu präsentieren, sondern auch mal ins kalte Wasser zu springen und die inneren Alarmglocken getrost zu ignorieren.

Lernen ist gesund und stärkt die mentale Gesundheit

Der Lernbereitschaft wird zudem noch eine weitere positive Note verliehen- es ist gesund den Geist zu füttern. Es mag anstrengend sein sich mit etwas zu beschäftigen, was in erster Linie nicht leicht von der Hand fällt oder einem wie eine Fremdsprache erscheint. Aber wie bei allem im Leben, sind es die vielen kleinen Blöcke, die am Ende das ganze Haus bauen. Bei jedem Meilenstein werden verschiedene Hormone ausgeschüttet wie Dopamin, Serotonin und Endorphine, die Wohlbefinden und Glücksgefühle auslösen können. Den Horizont zu erweitern, in Themen einzutauchen, die einem fremd sind, tut demnach nicht nur einem selbst gut, sondern fördert auch das Verständnis anderen Menschen gegenüber.

Ich glaube, wir sind nicht dazu gemacht, alles richtig zu machen und alles zu verstehen, sondern nur, es überhaupt zu versuchen. Wenn die Dinge, die wir erlernen, irgendwann zu einem Erfolg führen – und Erfolg wird individuell verstanden – kann dies eine angenehme Begleiterscheinung unserer Mühen sein. Doch am Ende ist es egal, wohin uns das Anlegen an fremde Ufer führt. Sicher ist nur, dass es unseren Horizont erweitert. Und das ist es allemal wert.

Was möchtest du noch lernen, worin du womöglich kläglich scheitern wirst?

Das Maskottchen unserer Zeit

Politische Texte sind normalerweise nicht mein Bereich. Ich ordne mein Schreiben einer anderen Kategorie zu. Ich reflektiere gerne über das Leben, meine Kinder, über die Liebe und die Natur. Ich denke über die Menschen in meiner Nähe und die in der Ferne nach. Es gibt wundervolle Kulturen und Traditionen, über die es sich zu schreiben lohnt. Es warten unglaubliche Geschichten darauf, erzählt zu werden. Aber wenn ich über all diese Dinge nachdenke, erkenne ich, dass das Leben, mit all seinen Facetten, die mich faszinieren, unvermeidlich mit Politik verbunden ist. Mein Leben spielt sich auf diesem Planeten ab, und ob ich will oder nicht, ich bin Teil eines Systems, das von einer Minderheit geführt, gesteuert und beeinflusst wird, die sich als die Mächtigsten der Welt bezeichnen können. Ich bin Teil einer Gesellschaft, die sich über Jahrhunderte entwickelt hat und doch in mancher Hinsicht auf der Stelle tritt.

Angesichts dieser Umstände habe ich keine andere Wahl, als mich der Politik zu stellen. Ich kann sie nicht ignorieren, da mein Leben und das meiner Kinder davon abhängt. Ich bin ein Teil davon – auch wenn ich es vorziehen würde, auf einer Insel mit weißem Sand und türkisblauem Meer zu sein, weit weg von den schrecklichen Nachrichten, die mich täglich über all die vielen Kanälen erreichen.

Ich kann mich der Politik nicht entziehen, und schon gar nicht dem Wahlsieg von Trump. Doch es ist nicht sein Sieg, der mich schockiert. Denn wer auch immer gewonnen hätte, ist nur das Maskottchen unserer Zeit. Ein Symptom der Krankheit, die sich bereits in unserer Welt verbreitet hat.

Viele Ratgeber betonen, dass man ohne Veränderung der Handlungen keine neuen Ergebnisse erwarten kann. Zum Beispiel wird jemand, der täglich Süßigkeiten und Fast Food isst, nicht gesünder oder schlanker werden, ohne seine Ernährung zu ändern. Es erfordert Entschlossenheit, Tränen, Mut, Ausdauer, Disziplin und tägliche Aktionen, um Ziele zu erreichen. Niemand anders wird die Arbeit für einen erledigen.

Das gilt auch für unsere Gesellschaft. Wenn wir den bequemen Weg wählen, Ausbeutung durch unser Konsumverhalten fördern, bei Unannehmlichkeiten wegschauen, uns im Hamsterrad drehen und uns nur nach der Sonne richten, während sie bereits große Teile der Erde verbrennt, wird sich das schädliche System weiterentwickeln und Symptome wie Trump werden zunehmend sichtbar.

Es gibt eine treffende Metapher: Lotusblumen gedeihen im Schlamm. Daher könnte es – wenn nun auch diejenigen, die bisher im Hintergrund standen, überlegen, was schiefgeht – zu einer Veränderung kommen. Vielleicht lassen sich die Strömungen umlenken, kollektives Verhalten neu orientieren. Vielleicht könnte dieser Wahlsieg jene aufwecken, die bisher glaubten, die Probleme der Welt gingen sie nichts an.

Ich möchte weitere Samen in den Schlamm pflanzen, in dem wir uns befinden. Und ich hoffe, dass auch jene, die noch zu privilegiert sind, um die Dringlichkeit zu spüren, sich endlich für ein würdevolles Miteinander auf unserem Planeten einsetzen werden.

Denn letztendlich haben die Privilegierten die Macht, im System den größten Unterschied zu bewirken. Doch sind es oft gerade diese Privilegierten, die am meisten davor zurückschrecken, etwas von ihrem Kuchen abzugeben. Dabei wäre der Kuchen am köstlichsten, wenn jeder ein Stück davon erhalten würde – genug ist schließlich für alle da.