„Komplexitätsreduktion“

Gastbeitrag von Andrea Christen

Oder weshalb wir unser Leben vereinfachen sollten.

Komplexitätsreduktion. Ich weiss noch, wann ich dieses Wort zum ersten Mal gehört habe. Es war vor ca. 15 Jahren während meines Studiums der Sozialen Arbeit, in meinem Lieblingsfach Soziologie. Seitdem begleitet mich dieses Wort. Unter anderem, weil es irgendwie wunderbar absurd ist, dass ein Wort, welches sinngemäss „Vereinfachung“ bedeutet, so lang und kompliziert daherkommt.

Aber vor allem, weil es für mich persönlich ein Thema ist. Ständig. In meinem nicht-neurotypischen Gehirn ging es schon immer zu und her wie auf einer Strassenkreuzung in Bangkok – chaotisch und unübersichtlich. Das kann anstrengend sein. Immer, wenn ich nicht mehr weiss, wo mir der Kopf steht, denke ich an „Komplexitätsreduktion“ und frage mich: Wie kann ich es einfacher machen?

Das Leben ist nicht nur komplex, wenn der Verstand anders tickt, es ist auch komplex, wenn das Zuhause voller Zeug ist, das wir nicht brauchen aber managen müssen.

Es ist komplex, wenn wir für andere Menschen Verantwortung tragen.

Es ist komplex, wenn die Agenda keine freien Lücken mehr aufweist.

Es ist komplex, wenn wir Kaufentscheidungen im Internet oder zwischen riesigen Supermarktregalen treffen müssen.

Es ist komplex, wenn uns im Privaten oder bei der Arbeit die Bürokratie in die Quere kommt.

Es ist komplex, wenn wir in einer Flut von Nachrichten aus weissderguggerwievielen Messengerdiensten, Chatgruppen und E-Mailkonten versinken.

Je komplexer unser Leben, desto grösser wird unsere Sehnsucht nach Einfachheit. Das ist ganz natürlich.

Wir leben in einer hochkomplexen Welt mit einem „alten“ Gehirn, das noch für die Zeit der Jäger:innen und Sammler:innen gemacht ist. Kein Wunder, drohen unsere Köpfe da manchmal zu implodieren. Sie sind einfach nicht gemacht dafür, ständig auf Hochtouren Informationen zu verarbeiten. Der Infofluss der unaufhörlich aus unseren smarten Phones plätschert, trägt ganz zusätzlich dazu bei, dass wir nicht mehr zur Ruhe kommen.

Unser Hirn sehnt sich nach Einfachheit. Das ist normal und gut so.

Die Frage ist nur, in welchen Bereichen wir nach dieser Einfachheit suchen. Wenn unser Alltag schon so komplex ist, dass wir kaum noch klar denken können, bleibt uns wenig Kapazität für die wirklich großen und wichtigen Themen. Und genau dann neigen wir dazu, einfache Antworten auf schwierige Fragen zu suchen: Richtig oder falsch? Schwarz oder weiß? Gut oder böse? Wir sind erleichtert, wenn uns jemand sagt, was richtig oder falsch ist, oder wir verschließen einfach die Augen – weil es zu viel wird.

Dabei ist es gerade bei diesen Bereichen entscheidend, dass wir uns die Kapazität für Komplexität bewahren (ob Komplexitätskapazität ein Wort ist?). Wir leben in einer Zeit tiefgreifender Veränderungen, und es ist wichtig, dass wir hinschauen, differenziert urteilen und nicht einfach alles in einfache Schubladen stecken. Denn diese Veränderungen betreffen nicht nur uns, sondern die gesamte Menschheit und die Zukunft unserer Kinder.

Und eigentlich wissen wir alle, dass es wichtig ist uns diesen Themen zu stellen.

Ich arbeite als Einrichtungsberaterin und rede oft über die Themen Reduktion, Einfachheit und Ruhe. Das ist kein Trend, sondern die Grundlage dafür, genug Kraft und Kapazität zu haben, um uns um die wirklich wichtigen Dinge zu kümmern.

Deshalb ist es so wichtig, den Alltag dort zu vereinfachen, wo es nicht so wichtig ist. Und da wo es sinnvoll ist, Entscheidungsmöglichkeiten zu reduzieren. Das sieht für jede:n von uns anders aus. Für mich heisst es konkret:

Mut zur Lücke haben und auch mal Einladungen ablehnen. Zu wissen, dass das Leben weiter geht, auch wenn ich eine interessante Veranstaltung verpasse. Nicht viele, dafür Lieblingskleider zu besitzen, die ich jeden Tag tragen möchte. Nicht auf jede Nachricht sofort zu antworten und regelmässig offline zu sein. Mir bewusst zu sein, dass das Glück meines Kindes nicht davon abhängt, ob es alles bekommt, was die anderen auch haben. In meiner Agenda großzügig Platz für freie Zeit und Langeweile zu lassen, weil diese die Kreativität fördert und uns hilft, Lösungen für komplexe Probleme zu finden.

Also, lasst uns gemeinsam für mehr Ruhe, Einfachheit und freie Zeit sorgen. Es wird nicht nur uns persönlich guttun, sondern auch der Welt. Denn wie Susanne Moser einmal sagte: “Burned out people aren’t equipped to serve a burning planet.”

Zur Autorin

Andrea Christen lebt mit ihrem Sohn in Biel. Sie ist Pädagogin, Sozialarbeiterin und Raum- und Ordnungsberaterin. Schreiben ist für sie gleichermassen Leidenschaft und Seelenbalsam. Sie träumt von einem Raum, in dem sie in Zukunft ihre unzähligen Ideen und Projekte umsetzen kann




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