Vor einigen Jahren, als ich fast meine Fähigkeit zu gehen verloren hatte, fing ich an, mich mit dem Konzept der Selbstliebe zu beschäftigen. Es wird oft gesagt, dass man, wenn man sich mit einem Thema beschäftigt, es plötzlich überall wahrnimmt. Wenn ich zum Beispiel den Kauf eines roten Autos in Betracht ziehe, scheinen plötzlich alle Autos auf der Straße rot zu sein. Wenn ich überlege, ein Baby zu bekommen, scheinen alle Frauen um mich herum schwanger zu sein. Unser Fokus richtet sich auf das, was uns bewegt. Deshalb kam es mir vor, als würde sich die ganze Welt der Selbstliebe zuwenden – überall fielen mir Bücher auf, die sich mit Selbstfürsorge beschäftigten. Eine neue Welt tat sich für mich auf, da ich diese Art des Umgangs mit mir selbst nicht kannte – sonst wäre ich vielleicht nicht in die Lage gekommen, die meine Gesundheit beeinträchtigte. Jahrelang vernachlässigte ich mich selbst und meine Bedürfnisse. Der Wendepunkt kam, als ich erkannte, dass ich ‚dürfen‘ statt ‚müssen‘ kann. Mir wurde klar, wie wichtig es ist, auf die eigenen Empfindungen zu achten und Grenzen zu setzen.
Ich stehe nicht allein da, mit meinem Wunsch nach weniger Stress, mehr Anerkennung und der Hoffnung auf eine Gesellschaft, die psychische Gesundheit stärker berücksichtigt als in der Vergangenheit. Soziale Medien zeigen, dass „Selbstliebe“ zum Trend geworden ist. Hierbei finde ich mich in einem Konflikt zwischen dem, was ich für gesund und wertvoll halte, und dem, was ich beobachte. Ich unterstütze voll und ganz die Bewegung hin zu einer Gesellschaft, die die Gefühle und Wünsche jedes Einzelnen ernst nimmt, ohne jedoch die feine Grenze zu überschreiten, die zu Schaden führen könnte. Der Trend geht nicht mehr nur darum, die eigene mentale und körperliche Gesundheit und notwendige Grenzen zu wahren, sondern entwickelt sich zunehmend zu narzisstischen Formen, die in Ignoranz umschlagen können.
Diese Entwicklung wäre mir vielleicht kaum aufgefallen, hätte sich meine kritische Sicht auf die Welt nicht durch die schreckliche Situation im Nahen Osten drastisch verstärkt. Es fühlt sich an, als hätte ich eine Neuprogrammierung erfahren, um die Dinge anders zu sehen. Die Aspekte des Systems, die ich zuvor beklagt habe, wie Umweltzerstörung und finanzielle Ungleichheit, sind für mich nun kaum noch hinnehmbar. Institutionen, an deren Professionalität ich früher kaum gezweifelt habe, wirken nun betrügerisch auf mich. Meine Bemühungen um Selbstliebe scheinen fast lächerlich angesichts der Leiden, die Zehntausende Zivilisten, nur wenige Flugstunden entfernt, ertragen müssen.
Die Frage, ob es fair ist glücklich zu sein, wenn ich anderen dabei zusehe, wie sie ihre Kinder begraben müssen und ihre Häuser verlieren, überschattet mich. Ich kann ihren Schmerz nur erahnen, aber weine um ihre Verluste, als wären es meine eigenen. Ich bin mir bewusst, dass meine Gesundheit wichtig ist und ich sie schützen muss, vor allem um für meine Kinder präsent zu sein. Dazu gehören auch Dinge, die Spass und Leichtigkeit hervorbringen. Ich kann mich nur dann mit globalen Ereignissen auseinandersetzen, wenn ich mich wohl fühle. Daher halte ich es für wesentlich, eine gesündere Beziehung zur Selbstliebe zu entwickeln, die zwar die Anerkennung eigener Bedürfnisse und die Unabhängigkeit von der Meinung anderer einschließt, aber nicht in eine übertriebene Ich-Mentalität abgleitet. Wer sich selbst keine Freude mehr erlaubt, nur, um in Solidarität mit den Schwächsten zu stehen, hilft niemandem damit. Es ist unser natürliches Recht Begeisterung, Gesundheit, reiche Erfahrungen und die Schönheit der Welt zu erleben. Wenn es aber nur darum geht sich von allen abzuheben, sich die Welt nur noch um einem selbst dreht, Egoismus kultiviert wird, dann nimmt dieser Begriff der „Selbstliebe“ eine ungesunde Färbung an. Dann geht es soweit, dass wir irgendwann abstumpfen und das verlieren, was für uns Menschen unverzichtbar ist: Echte Verbindungen.
Das Leid im Nahen Osten hat in mir ein Feuer entfacht. Es rief in mir eine Solidaritätswelle hervor, die weit über die Länder rund um Palästina und die umliegenden Länder hinausgeht. Es begann mit einem Gefühl der Ungerechtigkeit und mündet in einer Überzeugung, dass ein gewaltiges globales Problem vorherrscht, das hauptsächlich von patriarchalischem, westlichen Ausgang ist. Ein Problem, das im Grunde den gleichen Kern trägt, aber immer in einem anderen Kostüm erscheint. Es ist der „Ich“ Gedanke; die Annahme, man unterscheide sich von anderen – besser, zivilisierter, wertvoller-, der dazu führt, dass sich die Gier nach immer mehr niemals stillen lässt. Dieser subtile Narzissmus, den besonders machtpositionierte Menschen haben. Und es ist die Abwesenheit von emotionaler Intelligenz. Das Auseinandersetzen mit Geschichte, Kultur und der Umwelt- mit Dingen, die sich nicht nur im eigenen Umkreis bewegen, aber auch mit dem Durchforsten des eigenen Innenlebens.
Trotz meiner täglichen Bestürzung darüber, dass so viele Menschen Schreckliches durchmachen müssen, empfinde ich tiefes Glück beim Austausch mit jenen, die ebenfalls unter diesen Nachrichten leiden. Gemeinsam zu trauern, Gefühle zu teilen, Erfahrungen zu machen und sich gegenseitig zu unterstützen, sind wesentliche menschliche Bedürfnisse. Es mangelt an dem Bewusstsein, dass es nicht ausreicht, nur bis zum Tellerrand zu schauen. Wir können nur vollständig sein, wenn wir alles einbeziehen, was zu unserer Welt gehört. Schon in der Schule sollte Kindern Empathie und Mitgefühl gelehrt werden. Die westliche Welt muss sich den Folgen ihrer langanhaltenden Unterdrückung stellen. Selbstliebe zu zelebrieren funktioniert nur, wenn wir uns auf echte Verbindungen einlassen und auch Unbequemlichkeiten gegenübertreten. Indem wir Kompromisse eingehen und akzeptieren, dass wir nicht so einzigartig sind, wie wir es vielleicht wünschen, sondern Teil eines großen globalen Puzzles.